Der Vorteil des Monsieur Le Plein Air
Als meine Frau und ich im Herbst 2019 Rügen besuchten und dort den Nationalpark Jasmund durchwanderten, fiel der suchende Blick nahezu zwangsläufig wieder und wieder auf die Kreidefelsen, beileibe nicht nur, um lohnenswerte Fotomotive zu finden.
Irgendwo hier hatte einst Caspar David Friedrich gestanden, Skizzen angefertigt und 1818 daraus sein berühmtes Landschaftsbild Kreidefelsen auf Rügen montiert. Kunsthistoriker wie Heimatforscher bemühten sich lange, genau diese Felsen zu finden. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn nirgends sieht es exakt so aus, wie von Friedrich gemalt. Es ist eine Komposition, auch wenn immer wieder Apologeten ins Feld führten, das Meer habe längst die Felsen unterspült und diesen einen vielleicht zum Abbruch gebracht.
Das ist wenig überzeugend, hat Friedrich doch auch bei seinem Watzmann Gemälde das Bergportrait komponiert mit Landschaftselementen aus dem Harz, dem Riesengebirge und dem Watzmann selbst. Warum also sollte es beim Kreidefelsen anders gewesen sein?
Es ist schließlich das Privileg der Landschaftsmaler, und darum geht es hier eigentlich, die Wirklichkeit im (Ab)bild um Elemente zu ergänzen oder einfach wegzulassen, was stört: Seien es die Menschen, die sich an einem Flussufer spazierengehend verlustieren , sei es heute ein Hochspannungsmast oder ein Baukran im Hintergrund. Weg gelassen wird, was missfällt.
Der Maler kann allerdings auch einfach Dinge ergänzen, um das Bild ausgewogener zu machen: Einen knorrigen Baum am Ufer eines Flusses, ein Segelboot auf dem Wasser oder was immer er meint. Erst, wenn er nahezu „Unverrückbares“ ergänzt oder verschwinden lässt, einen Felsen oder ein Bauwerk, überschreitet er bewusst, die Grenze einer „realistischen“ Abbildung des zuvor Gesehenen. Als ging es in der Kunst vornehmlich darum, die Wirklichkeit 1:1 abzubilden und nicht vielmehr darum, dass der Künstler sie interpretiert, zumindest zeigt, wie er sie sieht.
Freund Alexander Broy, der sehr viele Landschaftsbilder gemalt und gerade in Fürstenfeldbruck in der Galerie Frey Reiseskizzen auf Bierfilz , das sind 48 kleine Gemälde, ausstellt, beschäftigt sich intensiv mit der Plein Air Malerei. In einem Youtube Video erklärt er, worum es bei dieser bald endenden Ausstellung geht:
Wie sehr ihm die Plein Air Malerei ans Herz gewachsen ist, zeigt er auch in den En plein air Zines, die er herausgibt. Während alle Welt sich der digitalen Transformation zugewandt hat, hat Alex einfach den Spieß umgedreht. Seine Gedanken, Erfahrungen und Erlebnisse veröffentlicht er nicht nur digital in seinen Videos, sondern auch in einem kleinen FanZine, einem durch und durch nostalgischem, analogen Produkt: Einem Heftchen voller getippter Inhalte, fotokopiert und mit Hand getackert, wie man es aus den 80ern kannte, als sich Fans auf diesem Weg über die unterschiedlichsten Dinge austauschten – motiviert und getrieben von der eigenen Begeisterung. Herrlich anachronistisch, diese Idee.
Ausgabe Nr. 3, vierfarbig und ausnahmsweise professionell gedruckt wegen der Farbbilder, im ganz eigenwilligen Format 120X170mm und 24 Seiten stark, konzentriert sich ganz auf die Bemalung dieser Bierfuizl. Entsprechend heißt es auch wie die Ausstellung Reiseskizzen auf Bierfilz . Da schreibt ein Könner und Kenner und gerät dabei, wie sich das für FanZines gehört, regelrecht ins Schwärmen über Plein Air.
Mit Alex diskutiere ich beim Bier die immensen Vorteile, die die Landschaftsmalerei gegenüber der Landschaftsfotografie bietet, aber eben auch die Nachteile. Der Maler muss zwar sein Equipment mitnehmen, zumindest, wenn er Plein Air, also in freier Natur malt und nicht nur Skizzen (oder Fotos) anfertigt, um diese im Atelier auf Leinwand wie Friedrich oder auf Bierdeckelkarton (wie Alex) zu bringen. Er muss auch auch erhebliches an Zeit aufwenden, bis er nur ein einziges Bild angefertigt hat.
Dafür aber kann er eben nicht nur am Bildausschnitt „manipulieren“, er kann auch ergänzen oder weglassen. Und niemand nimmt es ihm krumm. Das ist dann seine künstlerische Freiheit. Recht so! Freiheit im Freiland.
Unsereiner (ich nenne mich mal in diesem Kontext rotzfrech Fotograf) hingegen schultert „nur“ seinen Kamerarucksack, schleppt vielleicht noch ein Stativ mit, stapft und knipst drauflos. Einmal, zweimal, dreimal, zehnmal, hundertmal – egal. Irgendein Bild wird schon was geworden sein. Digitale Fotografie erlaubt eben gigantische Fotomengen. Natürlich steht auch der Fotograf, ob Amateur oder Profi, für ein Foto gefühlte Ewigkeiten irgendwo am Wegrand, fixiert einen Baum und wartet, bis die Sonne tief genug dahinter steht, wartet, bis der Mond aufgegangen ist, die Wolken sich verziehen oder ein paar Vögel über den See fliegen… Schnell, schnell, schnell geht es eben auch hier nicht. Und nicht selten findet er gar nicht erst irgendein Motiv.
Trotzdem: Innerhalb eines Spaziergangs können oft hunderte zum Teil sehr, sehr unterschiedliche Bilder entstehen, die dann reduziert auf das Verwertbare auf der Festplatte landen. Alex malt in der gleichen Zeit nur eines.
Hinterher im „Atelier“ allerdings muss/kann/sollte der Fotograf mit der eigentlichen Arbeit am Bild beginnen, während der Maler schon beim Bier sitzt und darauf wartet, dass sein Werk trocknet.
Was zu tun ist? Horizontbegradigungen, Ausschnittauswahl, Schwarzwertkorrekturen, Belichtung, Weißabgleich, punktuelles Schärfen oder Weichzeichnen, Kontraste… vielleicht konvertieren einzelner Motive in Schwarz-Weiß. Was immer der Fotograf meint, wie er das Beste aus den Rohdaten des Fotos herausholen kann. Am Rande bemerkt: Welch Unterschied zu der Zeit, in der sich der wohl berühmteste Street Fotograf Henri Cartier-Bresson rühmte, von jedem Motiv immer nur dieses eine Bild gemacht zu haben – und immer mit dem festen Normalobjektiv mit 50mm Brennweite.
Die aufgelistete Bildbearbeitung halte ich nicht nur für akzeptabel sondern oft für angeraten. Wer zeigt schon gerne seine Fotos in Büchern, im Blog, auf seinen Social Media Kanälen oder in Fotocommunities, auf denen der Horizont so schief ist, dass der See ausläuft oder der Kirchturm gleich umzukippen droht? Das Netz ist ohnehin schon mehr als voll damit. All das kann der Maler von Anfang an vermeiden.
Aber es kann ja noch sehr viel weiter gehen: Zum Beispiel das Entfernen von Strommasten oder Baukränen, die der Maler gar nicht erst mit ins Bild gebracht hat (s.o.); oder mittels künstlicher Intelligenz gleich das ganze Bild polieren. Das kann soweit gehen, bis nichts mehr am Foto echt ist – ganz nach eigenem Gusto: „KI – hol mir den Fotobomber aus dem Bild!“ Schwupp! Weg ist er!
Für mich fühlt sich das Meiste, was die KI mit Bildern anstellen kann, falsch an, unehrlich und unredlich. Schon mit der digitalen Entfernung des Fahrzeugs vor dem Haus zwischen den Felsen in der Bretagne überschritt ich trotzig die Grenze der Ehrlichkeit. Ich fühlte mich dazu provoziert, denn das Auto steht ja keineswegs zufällig permanent vor der Tür. Es hat dort eine ganz bestimmte Funktion. Und dass es auch damals in Wirklichkeit dort parkte, verrät jedem, der das Bild genauer betrachtet, seine schemenhafte Spiegelung im Wasser.
Was dem Maler als Freiheit eingeräumt wird, wird dem Fotografen schnell als bewusste Verfälschung oder Manipulation unterstellt. Das gegenüberzustellen und darüber zu diskutieren, finde ich spannend. Und doch sind die Überlegungen eher rein akademischer Natur, also Gedankenspiele ohne signifikanten praktischen Nutzwert.
Letztlich muss das Bild, egal ob gemalt oder fotografiert, zunächst den zufriedenstellen, der es angefertigt hat. Und dann sollte es auch den Betrachtern gefallen, zumindest, wenn Freund Alex seine Bilder verkauft. Denn dazu sind sie gemacht worden. Seine FanZines übrigens auch, die über seinen Shop im ZINE Archive bestellbar sind. Schauen Sie doch mal vorbei, wenn das Thema sie interessiert.
Vielen Dank fürs Lesen.
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