Mediatipps (Teil 45): „Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ von Thomas Bauer

„Mindestens 35 Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal ein Reclam Heftchen gekauft habe. Bis heute.“ So kommentiere ich ein Cover-Foto des Reclam-Büchleins Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt von Thomas Bauer, das ich in den sozialen Medien gepostet habe. „Und jetzt freue ich mich auf einen Essay, der mir wärmstens empfohlen wurde.
Es ist schön, sein Hirn mit gehaltvollerem als dem immer nur Alltäglichen zu füttern.
Long live intellectuality ✌️“

Cover von Die Vereindeutigung der Welt

Die Philosophie hat wieder mal Einzug gehalten in meine Leseliste und damit in meine Mediatipps, das kommt öfter vor, siehe die Mediatipps zu Philipp Hübls Moralspektakel oder Hartmut Rosas Unverfügbarkeit. Vielleicht ist es der kleine, sehnsuchtsvolle Blick hinauf in den Elfenbeinturm, in die komplexe Welt der ganz großen Gedanken und Theorien, die so weit weg ist vom alltäglich Banalen, mit dem man es sonst fortwährend zu tun hat. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach ganz ein wenig zumindest gelesener Teilhabe am philosophischen Diskurs. Vielleicht ist es auch ein gewisses Behagen, dass da einer, nämlich der Autor, mit intelligenten Inhalten meinen Verstand „bedient, nachdem ich dem Gequatsche in den Alltags- und „sozialen“ Medien bisweilen so ganz unverhohlen wie durchsichtig manipulativ, dreist, dumm und verlogen ist, überdrüssig geworden bin.

Und worum geht es?
Thomas Bauer stellt eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft(en) als divers, bunt und vielseitig und der Realität fest, in der unsere Bereitschaft für Vieldeutigkeit, Vielschichtigkeit, Vielartigkeit rapide abgenommen hat. Oder konkret: Alle essen das Gleiche, reden das gleiche, kleiden sich gleich, schauen die gleichen TV-/Streamingformate, die einander zunehmend ähnlicher werden. Jüngstes, hoch aktuelles Beispiel, das ich hier anführen möchte, von dem Bauer noch nichts wissen konnte, ist, dass im Zuge großer Einsparaktionen die öffentlich-rechtlichen Sender ihre Spartenkanäle zusammenlegen oder einstampfen wollen. Das wäre ein signifikanter Schritt in die weitere Vereindeutigung und Vereinheitlichung, die Programmvielfalt in den eigenen Häusern zu Gunsten endloser Krimiserien und sich permanent wiederholender Talk- wie Quizshows mit immer den gleichen Gästen und Themen drastisch zu reduzieren. Hoppla!

Da wäre auch der Politpopulismus mit immer den gleichen Themen, Phrasen, Lügen, Verleumdungen und der immer gleichen Hetze gegen den politischen Gegner; ein weiteres Beispiel der Vereindeutigung. „Wer hat’s gesagt!“ könnte man in Dauerschleife spielen, ohne zu erkennen, ob ein Zitat aus einer Rede oder einem Interview von Merz, Lindner, Söder, Weidel, Aiwanger, Wagenknecht kommt… Zugegeben: Mehrdeutigkeit spielt in politischen Botschaften eine untergeordnete Rolle, Vielfalt hingegen nicht. Hoppla!

Aber nicht nur die Vielschichtigkeit geht verloren, auch die Vielartigkeit: Ein Stichwort hier ist die rapide abnehmende Biodiversität nicht nur bei Wildtieren und -pflanzen durch weltweites Artensterben. Bei „Nutz“tieren und -pflanzen ist das nicht anders. Alte Sorten und Arten werden immer weniger erhalten, natürlich wegen geringerer Erträge. Diversität wird weggezüchtet, so dass wir zum Beispiel weltweit nur noch eine einzige Bananenart haben – wehe, wenn da mal ein Pflanzenvirus oder ein Schädling dahinter kommt. Hoppla!

Als Islamwissenschaftler richtet Bauer verständlicherweise seinen Blick vor allem auf Religionen, um zu vermitteln, welche Auswirkungen es hat, wenn in einer Epoche eine Gesellschaft ambiguitätstolerant ist und in einer anderen eben nicht, also mit Vieldeutigkeiten klar kommt und umgehen kann oder das Gegenteil der Fall ist. Im letzteren führt das zu einer Aufspaltung der Gesellschaft zwischen Menschen mit zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber allem Religiösen auf der einen und einem religiösen Fundamentalismus auf der anderen Seite. Übrigens weder etwas, was für den Islam typisch wäre oder dort exklusiv, denn diese Entwicklung lässt sich in anderen Religionen genauso beobachten: Man muss dazu nicht mal den Blick auf den Kreationismus und die Evangelikalen Strömungen in den USA richten, ähnliches lässt sich auch hierzulande beobachten. Ambiguitätstoleranz ist der Schlüssel zum Verständnis zu Bauers Essay. Und der wird auf einem Silbertablett präsentiert. Hat man sich damit erst einmal die Gedankenwelt des Autors aufge- oder eeschlossen, ist das Lesen ein großes Vergnügen verbunden mit vielen A Ha Erlebnissen, vielen „Ja, genauso ist es“-Zustimmungsmomenten und immer wieder überraschenden Perspektiven. Beispielsweise hätte ich die Katholische Kirche nun nicht gerade tolerant in Hinblick auf Ambiguität eingestuft, Bauer beweist mir sehr schnell das Gegenteil. Die Kirche ist immer schon mit ihren vielen Widersprüchlichkeiten klar gekommen. Hatte ich gedacht, dass mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine gewisse Weltöffnung in die Kirche Einzug gehalten hat, werde ich auch hier an einigen Beispielen eines Besseren belehrt – dass nämlich das Konzil im Gegenteil nicht dazu geführt hat, dass die Kirche gegenüber Vieldeutigkeiten toleranter geworden ist. Der Zentralismus und die Vereinheitlichung der Riten lassen kaum noch Raum dafür zu. Hoppla!

Freund Alex, ein Bruder im Geiste, hat mir dieses Buch empfohlen. Mein Dank an ihn für dieses kleine Reclam-Juwel und einen Ausflug in den Elfenbeinturm
Den Tipp gebe ich hier gern weiter.


Jetzt hier kaufen (Das Buch gibt es aber auch über die ISBN bei Ihrem Buchhändler):

Bauer, Thomas; Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt

Softcover / 104 Seiten / Philipp Reclam Verlag / 09. Februar 2018 / Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3150194928

Preis: 7,00 €

Auch als Kindle-eBook erhältlich


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1 Antwort

  1. Carola sagt:

    Ui spannend, danke für den Tipp!

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