Mediatipps (Teil 38): „Unverfügbarkeit“ von Hartmut Rosa

Ein Essay? Warum nicht?
Noch dazu einer, der – so behauptet mein Gewährsmann, der mir Unverfügbarkeit dringend ans Herz gelegt hat, gut und einfach zu lesen ist, was ja nicht bei allen Schriften von Geisteswissenschaftlern der Fall ist. Und ein weiterer, ebenfalls verlässlicher Gesprächspartner erzählt, er habe die 130 Seiten schnell und in einem Rutsch runtergelesen.
Also ein Ausflug in die Soziologie, denn der Autor Hartmut Rosa ist Soziologe und Politikwissenschaftler, lehrt an der Universität Jena, hat aber in diesem Essay seinen Elfenbeinturm verlassen und tatsächlich ein Buch geschrieben, das allgemein verständlich und nachvollziehbar ist – vielleicht nicht wirklich Jedem, aber jeden, der sich ein wenig hineinfuchst in die Geisteswissenschaften. Also ran an das Buch, allzumal deshalb, weil Rosa wegen seiner Debattenbeiträge zum Ukraine-Krieg medial heftig angegangen wurde und auch der erwartbare Shitstorm in den sozialen Medien postwendend folgte Denn Rosa hatte es gewagt, das Thema der Waffenlieferungen auf eine moralische Ebene zu heben und davor zu warnen, dass dieser Weg zwangsläufig in ein ethisches Dilemma führen wird.

Wer wäre ich, wenn ich nicht jetzt erst recht zu Büchern greife, deren Autorinnen und Autoren dem Tugendfuror ausgesetzt werden, wie auch Juli Zeh?
Eben. Mir schreibt keiner vor, was ich zu lesen und was ich nicht zu lesen, wem ich zuzuhören und wen ich zu boykottieren habe. Da bilde ich mir schon selbst ein Urteil.
Nun geht es in dem 2020 veröffentlichten Essay ohnehin nicht um den Ukraine-Krieg. Es geht viel mehr um das Spannungsverhältnis des Menschen mit der Welt, die er sich verfügbar machen will, die sich dieser Verfügbarkeit aber immer wieder entzieht, womit das Ansinnen des Menschen von vorneherein zum Scheitern verursacht ist.
Gleichzeitig geht es um die Faszination eben genau dieser Unverfügbarkeit und um das Ansinnen des Menschen, sich eben selbst immer und überall auch verfügbar zu machen.
Was ein eklatanter Fehler ist,

Nun ist Rosas Essay natürlich keine glühende Kampfschrift für Entschleunigung, gegen die Sucht der Selbstoptimierung, kein Work-Life-Balance-Ratgeber oder der große Appell an jeden einzelnen, einfach mal weg zu sein. Das wäre auch arg banal, kein Essay sondern auch wieder nur ein Ratgeber zur Rückkehr zum eigenen Ich, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen. Es ist – und ihn zitiert er auch – schon nah dran an Albert Camus Mythos von Sysiphos, der aber damit das Absurde beschreiben wollte: Die Sinnwidrigkeit der Welt und der Sehnsucht bzw. dem Streben der Menschen, sich genau dagegen aufzulehnen, also einen Sinn zu suchen, sinnvoll zu handeln.
Rosa ersetzt nun den Sinn durch die Verfügbarkeit, also (sich) die Welt verfügbar zu machen, was bedeutet: Sie sichtbar machen, sie erreichbar/zugänglich machen, sie beherrschbar machen und schließlich sie nutzbar machen.
Dass das nur so mittelprächtig funktioniert, legt er auf 130 Seiten dar. Und noch mehr: Da nämlich, wo es Menschen tatsächlich geschafft haben, ein Stückchen Welt voll umfänglich verfügbar zu machen, verliert sie ihren Reiz – denn die Resonanz, die unabdingbar ist, geht verloren. Wir haben sie quasi selbst kaputt gemacht, nichts schwingt mehr, nichts klingt mehr an, dieser Teil einer vollkommen beherrschte Welt ist verloren.
Das klingt alles sehr theoretisch, aber Rosa unterlegt das zum besseren Verständnis seiner Leser*innen immer wieder mit Beispielen.
Ein See, so nehme ich für mich nach der Lektüre mit, verliert vollkommen seinen Reiz, löst keine Resonanz mehr aus, wenn ich ihn komplett beherrsche und für mich nutzbar gemacht habe – als Schwimmer jede Ecke, jeden Winkel erkundet habe, nichts Neues mehr entdecken kann oder will.
Und das gilt für Filme, Bücher, Musikstücke, Urlaubsregionen, Städte, Beziehungen – einfach für alles.
Das sollte mir zu Denken geben.
Das tut es auch und damit ist der Zweck dieses Buches erfüllt.


Jetzt hier kaufen (Das Buch gibt es aber auch über die ISBN bei Ihrem Buchhändler):

Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit

Taschenbuch / 130 Seiten / Verlag: Suhrkamp / 12. Oktober 2020 / Sprache: Deutsch
ISBN-13
978-3518471005

Preis: 10,00 €

Auch als Kindle-eBook erhältlich


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