Gestern im ICE – warum ich Mitreisende so liebe

Gestern im ICE.
Heißt es nicht: wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen?
Und das am besten schon auf der Hinfahrt. Nicht viel anders halten es die drei Ehepaare aus dem Ostwestfälischen, die zur Sommerfrische nach Garmisch-Partenkirchen aufbrechen, dazu die Vorzüge der Deutschen Bahn nutzen und es sich im Wagen, der als „Ruhebereich“ gekennzeichnet ist, in nächster Nähe zu mir bequem gemacht haben. Der Hinweis „Ruhebereich“ hindert sie nicht, verteilt über zwei Vierertische lautstark zu schwadronieren, sich permanent Haribo Colorado und Bahlsen Kekse, Mineralwasser und Apfelschorle anzubieten. Das hindert sie auch nicht, vom Fahrkartenkontrolleur bis zum Kaffeverkäufer jedem ein Gespräch aufzudrängen und in einem selbigen in Haft zu nehmen. Da wird geschnattert und gegibbelt, gelacht und gescherzt bis der arme Mensch sich der Situation mit dem Hinweis, er müsse noch ein wenig arbeiten, dem Plausch entziehen kann. Ich beneide ja meine Mitmenschen um ihre schonungs- und hemmungslose Kontaktfreude.
Wie auch um die Fähigkeit der Konversation, die darin besteht, seinen langjährigen Bekannten all das zum x-ten Mal zu erzählen, was alle eh schon wissen. Heißt wohl Small-Talk und ist eine der überflüssigsten Erfindungen der Neuzeit.

Mal erzählt der eine, wie das früher mit dem VW-Käfer war (1302, himmelblau), dass er danach einen Variant (sandfarben) und dann einen Santana hatte („Dolles Auto“), mal schwört der andere auf Audi. Man tauscht Krankengeschichten aus, einer hat’s am Knie, der andere wird immer kurzatmiger. Von der Prostata redet zum Glück aber keiner. Man freut sich gemeinsam auf die kommende Wellness, vor allem auf den Whirlpool zu Fuße der Zugspitze. Gestreng schauen die Gattinnen, als ihre Männer in zunehmender Verzückung von Thai-Massagen, die sie ja noch buchen könnten, schwärmen.

Ich werde unfreiwillig Zeuge des Geschehens, ich teile seit Kassel-Wilhelmshöhe nicht nur das Zugabteil mit dieser Truppe, ich sitze direkt dahinter und erfahre so Dinge, die ich nicht wissen will,. Diskret weghören geht nur mit Kopfhörern und lauter Musik. An eine Autorenlesung , auf die ich mich gefreut hatte, ist nicht zu denken, das Geschnatter überlagert alles. Der Schwerhörigkeit der Ehepaare ist es geschuldet, dass die Gesprächslautstärke das Hinweisschild „Ruhebereich“ endgültig ad absurdum führt. Die drei Frauen verabreden sich zum gemeinsamen Klogang („wir gehen doch immer zusammen!“ – aber erst nach dem Stop in Fulda, wenn der Zug wieder fährt, wenn man wieder durchkommt, wenn man…

Eine erinnert sich, wie früher nach verrichtetem Geschäft eben dieses bei voller Fahrt – plumps – auf die Gleise geschleudert und verprengelt wurde.

HEY LEUTE, STOP! DAS IST MIR SCHEISSEGAL!

Einer der Männer immerhin erwähnt mehrfach, das Ganze hier sei wie in einer Szene von Loriot – ihm fehlt allerdings als Teil des Ensembles die ironische Distanz dazu. Denn er gehört dazu. Ich nicht.

Mit Langmut verfolge ich die Diskussion über anstehende Urlaubspläne. Keine Spur der mir so oft unterstellten Rentnerparanoia.
Zentrales Thema jetzt vor mir: Wer heute Abend im Restaurant in Garmisch was essen wird, und wer sich schon wie lange auf deftige bayerische Schmankerl freut und wessen Galle welches Essen so gar nicht mehr verträgt.
Das bringt eine der Frauen dazu, in die Runde zu werfen, wer noch Hunger habe, solle sich melden, sie hätte noch Leberwurstbrote, ein paar Apfelspalten, ja sogar noch zwei hartgekochte Eier. Die habe sie schnell noch gekocht, die hätte sie ja schlecht vierzehn Tage daheim im Kühlschrank lassen können.
Das finde ich klasse. Mit hartgekochten Eiern im Zug kann man wirklich alle Mitreisenden schikanieren, ich bin selbst ein Fan davon. Denn das Aroma hartgekochter Eier katapultiert unbeteiligten Dritten gern mal den Mageninhalt zurück in die Mundhöhle. Daher schlage auch ich immer vor, wenn wir verreisen, hartgekochte Eier mitzunehmen – eine Idee, mit der ich mich seit Kindertagen (wir hatten immer Eier mit – und einen kleinen Salzstreuer) nicht mehr durchsetzen konnte.

Aber niemand will Eier. Derweil der Zug mit etwa drei Minuten Verspätung Richtung Nürnberg rollt, dies auch durchgesagt wird, schwadroniert man im Sextett, was man alles an ähnlichen Situationen erlebt hat, Stunden sei man länger unterwegs gewesen, was heißt Stunden… Dazu kommen Staugeschichten, als man noch mit dem Auto gefahren ist, endloses Warten an den Grenzen. In rund 70 Jahren hat jeder der Beteiligten reichlich Erfahrungen sammeln können, aus denen er jetzt schöpfen kann.
Jeder trumpft auf, hat weitere Geschichten zu erzählen. „Wenigstens verhungern wir nicht“, kommentiert eine Frau. Sie habe ja noch… und zählt wieder den Inhalt ihrer Provianttasche auf.

Will aber keiner mehr was. Bis München nicht.

Gegend aus dem ICE Fenster heraus

Als der Zug sich München nähert, springen die ersten wie von der Tarantel gestochen auf. Laut DB App erreichen wir die Stadt in fünfzehn Minuten, da der Zug mittlerweile vier Minuten Verspätung hat. Also, frei nach Fontane, noch neunzehn Minuten bis Buffalo.
Das hindert die sechs nicht, hektisch aufzuspringen, sich in ihre Softshell-Jacken zu pellen, alles Herumliegende hastig in die Taschen zu stopfen und die Koffer aus der Ablage zu reißen. Ab dann steht man im Gang bzw. arbeitet sich zum Ausgang vor, denn andere machen das Gleiche, so, als wäre die Tür später nur drei Minuten geöffnet, wer dann nicht raus ist, bleibt eben im ICE gefangen. Draußen durchqueren wir Gegend am Gleisbett. Nichts als Gegend. Wir sind noch nicht mal im S-Bahn-Bereich, geschweige denn, dass wir die Bebauungsgrenze der ausfransenden Stadt erreicht haben. Macht aber nichts. Man schiebt sich schon mal in Stellung. Den Ehepaaren tun andere es nach. Bald steht die Hälfte der Reisenden im Gang. Noch 15 Minuten bis Buffalo. Oder so ähnlich.
Warum?
Der Zug endet in München – jeder hat mehr als genug Zeit, um den ICE zu verlassen, er fährt ja nicht weiter. Bei Zwischenstopps kann es schon mal knapp werden, das sehe ich ein. Aber nicht am Zielbahnhof.
Oder müssen alle sonst so rennen, weil sie den Anschlusszug verpassen? Immerhin ist die Umsteigezeit um 4 Minuten kürzer. Haben sie das nicht eingeplant? Doch haben sie – die Umsteigezeit beträgt laut Bahn.de (hab ich überprüft) 23 Minuten. Das sollte reichen, selbst bei der geringen Verspätung. Auch darüber wurde eifrig diskutiert.

Bei jedem Ruckeln des Zuges kegelt es die wenig standfesten Leute in den Gängen, einer haut einem neben ihm Sitzenden dabei den Rucksack ins Gesicht. Zeit für ein Handgemenge?
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so – noch zehn Minuten bis Buffalo.

Bebauung am Stadtrand von München aus dem ICE heraus

Endlich erreichen wir die ersten Gebäude, schnell nimmt die Dichte zu, wir sind in der Stadt. Ein untrügliches Zeichen für die noch sitzenden Mitreisenden, nun auch aufzustehen, sich zwischen die Anderen zu quetschen, zu drücken und zu schieben, damit man an seinen Koffer kommt, um diesen unter kräftigen Rempeln auf den Gang zu befördern. Allerhöchste Eisenbahn.
Noch fünf Minuten.

Rausdrängen aus dem Zug - gleich geht's los

Als ich die Szene beobachtend und noch immer sitzend auf Twitter belächle, mich dabei völlig verständnislos zeige, merke ich schnell, dass ich mit dieser Sicht auf die Mitmenschen nicht allein bin. Man verweist auf analoges Verhalten im Flieger oder dem Massenandrang reisegruppierter Seniorenurlauber vor dem Hotelrestaurant eine halbe Stunde vor Öffnung. Es könnte ja zu wenig Sitzplätze haben oder das Essen nicht für alle reichen. Oder einer sitzt an einem Tisch, wo man selbst gern gesessen hätte, den Patron aber nicht in seiner Nähe haben will.
Hackerbrücke in Sicht.

Hackerbrücke von schräg unten

„Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir München…“ tönt es als Durchsage. „Seht Ihr! Gleich sind wir da“, belehrt eine der Gattinnen, Typ Renate, alle anderen über einen Sachverhalt, den anders wohl niemand wahrgenommen hätte. Hach, was wären wir ohne sie?

Als der Zug hält, sich die Türen öffnen und die erste Welle Reisender eruptiv auf den Bahnsteig quillt, erhebe ich mich, nehme mein Köfferchen und verlasse den ICE. Ich schlendere hinunter zur S-Bahn.

Jetzt aber voran Leute - raus aus dem Zug

Selbige ist überraschend leer. Wie schade. Jetzt wäre Zeit, ein hartgekochtes Ei zu pellen. Käm bestimmt gut an.

Gähnende Leere in der S-Bahn


Vielen Dank fürs Lesen.
Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn Ihren Freunden weiterempfehlen – z.B. über Facebook, Twitter, in Internetforen, Facebookgruppen o.ä.
Haben Sie Fragen oder Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie bitte das Kommentarfeld.
Gern dürfen Sie meine Artikel auch verlinken.

Mehr von mir über meine Schwimmerlebnisse in Frei- und Hallenbädern, in Seen, Weihern, Flüssen und im Meer finden Sie im Buch Bahn frei – Runter vom Sofa, rein ins Wasser , das Sie in meinem Web-Shop aber auch in jeder stationären Buchhandlung bestellen können. Klicken Sie auf die Cover-Abbildung um mehr Informationen zu erhalten und in den Web-Shop zu gelangen.

Diesen Beitrag weiterempfehlen:

Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann

Subscribe to get the latest posts sent to your email.

2 Antworten

  1. Bärbel sagt:

    Herrlich 😂

  2. Als Leser dieses Blogs werde ich dir niemals die Kopfhörer empfehlen, welche ich auf Bahnfahrten oder sonstigen Gelegenheiten auf dem Kopf trage, wenn ich fremde Menschen ausgeliefert bin, als Freund allerdings schon … SONY WH 1000 XM3 oder so. Aufsetzen, einschalten und die Welt ist WEG!!!!!!!!!!!!! Einfach weg, ich höre nichts mehr. Meist höre ich auch keine Musik, ich betätige einfach nur die „Bullshit-Unterdrückungstaste“ und geniesse die Reise …. ich habe allerdings dann auch nichts zu bloggen …