Bilder aus Georgien (03) – Balkone und Hinterhöfe in Tibilissi

Backstreet-Tour lautet das Angebot einer Free Walking Tour, sie soll und wird uns in die Nebenstraßen und Hinterhöfe von Tibilissi führen, also dorthin, wo sich selten Touristen hin verirren, dorthin, wo es viel über die Stadt und das Leben darin zu erfahren gilt. Der Guide ist Zoran, ein Journalist, ein Intellektueller, ein quirliger Typ mit einem immensen Fundament an Wissen. Wir treffen ihn sonntags morgens in der Fabrika, einer ehemaligen Textilfabrik, in der heute ein Hostel, mehrere Cafes, Bars und Restaurants untergebracht sind, dazu Co-Working-Spaces und ein paar kleine Läden. Einst war das der angesagteste Ort für Backpacker, ein Treffpunkt internationaler Individualtouristen. Kult und Szenetreff. Das ist heute auch noch ein wenig so, aber längst geht es dort sehr etabliert zu. Nur eines hat sich wohl gehalten: Die Stille am Sonntagmorgen, wenn fast alles noch schläft und in den Cafes die Tische abgewischt werden. Eine Frau backt Weißbrot nach alter Tradition. Sie klatscht den Teig im Ofeninneren einfach mit Schwung gegen die Wand. Dort bleibt er in Rinnen kleben und wird gebacken. Sie spricht kein Englisch. Mit Gesten frage ich, ob ich sie fotografieren darf und sie nickt.

Von der Fabrika aus geht es kreuz und quer durchs Viertel. Viel gibt es zu sehen und noch mehr zu erzählen. Zoran zeigt uns Putler-Graffitis, die Verschmelzung von Putins und Hitlers Gesicht. Das ist auch bei uns nicht allzu neu, aber dass diese Graffitis bereits vor rund 20 Jahren in Georgien gesprüht wurden, überrascht mich doch. Wie vorausschauend, weil viel näher dran haben die Georgier den russischen Autokraten und Kriegsverbrecher schon früh durchschaut.

Zoran erzählt uns von den Hinterhöfen, von den Balkons und Balustraden, den Treppen und Verbindungsstegen zwischen den Häusern. Vieles davon wurde in der Sowjetzeit abgerissen. Balustraden, Treppen und Stege waren hervorragende Fluchtmöglichkeiten, wenn die stalinistische Geheimpolizei ausrückte, Menschen festnehmen und verschleppen wollte. Balkone wiederum hatten und haben in Georgien eine ganz besondere Bedeutung als Teil des Wohnraums. Auch von ihnen fielen viele der Stalinzeit zum Opfer, sie waren für das Regime Ausdruck der Bourgeoisie und der Dekadenz. Neubauten hatten gar keine, an alten Häusern wurden sie zum Teil abgerissen oder verfielen mit der Zeit. Jetzt erst verstehe ich, warum Georgien sich selbst stolz als Balkon Europas bezeichnet. Überhaupt ist die Hinwendung des Landes nach Westen in Tbilissi an jeder Ecke zu spüren.
Wie in vielen Ländern haben auch Georgiens Städte mit dem Zuzug vieler Menschen umzugehen: Da ist die Landflucht, da sind die Menschen aus Südossetien und Abchasien, den abtrünnigen Provinzen im Kaukasus. Im Krieg 2008, in dem Russland Georgien angegriffen hat, flüchteten viele nach Tbilissi. Sie alle brauchten Wohnraum, sie leben zum Teil in sehr ärmlichen Verhältnissen, dicht gedrängt in alten, heruntergekommenen Häusern. Und da sind die neuen Kriegsflüchtlinge aus der nahen Ukraine wie auch die aus Russland geflohen Männer, meist gut gebildet, die nicht für Putin in den Krieg ziehen und sterben wollen.

Zoran erzählt auch vom „Italian Style“, wie diese Hinterhöfe, in denen kreuz und quer Wäscheleinen gespannt sind, genannt werden. Sie erinnern an die Bilder der neo-realistischen Filme Italiens der Nachkriegszeit. Wir sehen Streetart, die auf die drohende Klimakatastrophe hinweist, die für einen sanften Umgang mit der Natur wirbt oder sehr ironisch ein Bild eines der berühmtesten Malers Georgiens Niko Pirosmani aufgreift. Zoran erzählt, erklärt, beantwortet Fragen über Fragen. Zu vielen Gebäuden hat er deren Geschichte recherchiert – nicht selten enthält sie die Enteignung zur Sowjetzeit und danach den Verfall des Hauses.

Alte Autos zeigt er uns, versteckte Kirchen, in denen während der Besetzung durch die UdSSR heimlich gebetet wurde, subtile Botschaften in ganz offiziellen Kunstwerken aus dieser Zeit: Er weiß einfach alles und teilt dieses Wissen mit unserer kleinen Gruppe. Hier Jugendstil, dort Neogotik, hier Brutalismus, dort typisch sowjetische Architektur. Das ganz Moderne, das ganz Alte. Auch die politischen Befindlichkeiten im heutigen Georgien spart er nicht aus, die Sehnsucht nach dem Westen, nach Zugehörigkeit zur EU, nach politischer Stabilität, die Problematik, Russland als direkten Nachbarn zu haben.
Schnell füllt sich sein Hut, als er nach über drei Stunden die Führung beendet. Es hat viel länger gedauert als veranschlagt. Aber keine Minute war zu viel.
Free Walking heißt „Donated“. Jeder gibt, was es ihm wert war. Und das ist eine Menge.

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Bildergalerien von weiteren Spaziergängen und Touren in Georgien folgen. Eine Übersicht über alle bereits veröffentlichten Beiträge finden Sie in der Ankündigung der Serie hier.


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