Flashback – Der mit der Zwiebel wirft
Wer das Spiel gewonnen hat, darf als Nächster die Zwiebel werfen. So will es das Gesetz.
Zwar heißt die Zielkugel offiziell Pallino, aber bei uns heißt sie Zwiebel. Immer schon. Auch das ist quasi gesetzlich geregelt.
Die Rede ist natürlich von Boccia, einem Spiel, das bei uns daheim ungefähr so häufig gespielt wird wie Weihnachten auf den Februar fällt. Nämlich nie. Und behaupten Sie jetzt nicht, bei Ihnen wäre das nicht ganz genauso.
Boccia ist komplett aus der Zeit gefallen. Mag sein, dass Boule eine gewisse Attraktivität besitzt, als ernsthafte Form des so ziemlich gleichen Spiels. Aber außer in den Kurparks gewisser überalterter Städte am Rhein habe ich hier in den vergangenenJahren nie jemanden Boule spielen sehen… Und Boccia schon gleich zweimal nicht.
Aber an diesem Wochenende ist alles anders. Theo, der mit Theodor nichts gemein hat, ist zu Besuch. Wir revanchieren uns bei dessen Vater Karl, indem wir auf den Achtjährigen aufpassen, derweil der Herr Vater einem wichtigen Termin nachgeht.
Vor 15 Jahren war das genau anders herum – da war Karl da und hütete unser Haus und unsere Kinder.
Theo, der wie alle Jungs Kinder in dem Alter in fremden Terrain beschäftigt werden will, stellt uns plötzlich vor eine große Herausforderung. Was tun mit dem Kerlchen?
Irgendwann im Laufe des Nachmittags fällt mir ein, dass irgendwo im Gartenschuppen eine uralte Tasche mit den Boccia-Kugeln sein muss. Die Tasche ist geschätzte 45 bis 50 Jahre alt, aus grauem, speckig-fleckigem Kunstleder gefertigt und war wohl mal eine Schuhtasche für Bowling-, Tennisspieler oder etwas ähnlichem. Ich aber kenne sie nur als Boccia-Tasche. So stand sie im Keller meines Elternhauses und wurde gelegentlich herausgeholt, wenn die Großeltern zum Kaffee kamen und danach nicht einfach wieder zurück in ihre Wohnungen gehen wollten. Hatten sich die Themen erschöpft, langweilten wir Kinder uns und quengelten oder lag diskutante Spannung in der Luft, half eine Runde spielen. Denn Spielen ist ja in erster Linie etwas Entspannendes, Erheiterndes – zumindest der Theorie nach.
Mein Vater holte die Tasche, gemeinsam gingen wir vom Balkon hinunter auf den Rasen und warfen oder rollten die Bälle auf die Zwiebel zu. So, wie man das früher eben fürchterlich analog gemacht hat.
Nicht selten endete die Partie in erregten Diskussionen, wessen Kugel denn nun am nächsten dran war. Es wurde ernst, denn niemand in unserer Familie gruppierte sich freiwilig bei den Verlierern ein.
Dieser notwendige Ernst und Siegeswille auch beim spielerisch-sportlichem Wettkampf war bei allen vorhanden. Selbst mein Großvater, der sonst ein Gemütsmensch ohne Gleichen war, reklamierte den einen oder anderen Sieg für sich. Auch meine Oma, die uns Enkel beim Kartenspielen oder Mensch Ärgere Dich nicht gern gewinnen ließ, damit die Motivation zum Weiterspielen erhalten blieb, konnte hier nicht einfach auf einen Sieg verzichten. Wie denn auch?
Die Lage der Kugel sprach meistens eine deutliche Sprache. Aber eben nicht immer. Oft war es eine Frage von Zenti- vielleicht sogar von Millimetern. Mein Vater beendete diese Diskussionen damit, dass mein Bruder oder ich einen Zollstock aus der Werkstatt holen mussten. Und dann wurde nachgemessen.
„Aber spiel nicht damit rum“, ermahnte mein Vater mich, wenn ich derjenige war, der zum Holdienst verdonnert worden war. „Nicht, dass wieder ein Zollstock abbricht. Dann kann man ihn nämlich gleich wegwerfen.“ (Als hätte er jemals einen abgebrochenen Zollstock weggeworfen. Mit dem kleinen Reststück konnte er wunderbar Farben oder Holzlasuren umrühren, mit dem langen Stück wurde weiter beim Boccia gemessen…).
Die Oma streikte, drohte mit Ausstieg aus der Spielrunde, wenn man ihr den Sieg aberkennt, meine Mutter versuchte zu vermitteln, wenn sie sich nicht klugerweise mit einem „Ich geh mal schnell die Spülmaschine einräumen“ ihrer Fluchtmöglichkeit bediente. Mein Bruder und ich feixten, die Stimmung stieg an.
„Messen wir doch einfach nach. Dann werden wir ja sehen, wir gewonnen hat!“
Mein Vater klappte – Spielteilnehmer und Wettkampfrichter in einem – den Zollstock aus. Die Stunde der Wahrheit war unerbittlich gekommen.
Er maß, derweil ich versuchte, mit dem Fuß unauffällig meine Kugel etwas näher an die Zwiebel zu schieben, um wenigstens den zweiten Platz zu sichern. Natürlich wurde diese plumpe Manipulation bemerkt. Man warf mir Regelverstöße vor und wollte mich disqualifizieren. Fürsprache kam von den Großeltern und damit war die schiedsrichterliche Autorität bei der Durchsetzung der Regeln in Frage gestellt.
Familie ist was Wunderbares – ein Quell steter Freude.
Viele Jahre später, als wir selbst Kinder hatten, nahm ich die Boccia-Tasche mit. Längst spielte in meinem Elternhaus niemand mehr damit. Ich dachte, es wäre vielleicht gut, sie bei uns zu haben, falls wir mal…
Nein, es kam nicht dazu. Die Tasche liegt in unserem Gartenschuppen. Ungenutzt. Boccia spielt man heute höchstens noch auf dem Campingplatz: Wir also gar nicht.
Bis Theo kommt.
Auf der Suche nach brauchbarem Spielgerät fällt sie mir in die Hand, ich entreiße sie ihrem Dornröschenschlaf. Das kann nicht das Originalspiel der 70er sein, die Kugeln sehen einfach viel zu glatt und ungenutzt aus, als dass sie zahlreiche Familienturniere überstanden und dann über 40 Jahre im Verborgenen geschlummert hätten:
Es wird auf Teufel komm raus gespielt. Jeder versucht, der Beste zu sein, sei es, dass er die eigenen Kugeln möglichst nah an der Zwiebel platziert, sei es, dass er die gegnerischen einfach wegschießt. Diskussionen starten, ob es regelkonform ist, die Zwiebel, die seit Neuestem Radieschen heißt, mit der eigenen Kugel wegzuschießen. Mir gelingt so ein Wurf: Die Zwiebel springt hoch und – oh Wunder – landet dicht neben der eigenen zuvor geworfenen Kugel. Man wirft mir Schiebung vor, Regelverstoß, bedroht mich mit Spielausschluss. Theo schiebt seine Kugel näher an die Zwiebel und hofft, dass es keiner sieht. Es hat sich also nichts geändert.
Und natürlich kommt es zu Diskussionen, welche Kugel denn nun am nächsten dran ist an der Zwiebel. Als pater familias erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass ich ja den Zollstock holen kann.
Und dann fällt der Satz aller Sätze:
„Messen wir doch einfach nach. Dann werden wir ja sehen, wir gewonnen hat!“
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Im Dortmunder Westpark hat sich Boule (und auch die griechische Variante mit Holzkugeln) vor einigen Jahren etabliert: Regelmässig spielen auf beiden – extra dafür angelegten –
Plätzen überwiegend ältere Herren stundenlang mit großer Begeisterung…
Sehr schön… ich sollte mal wieder nach Dortmund fahren. Und vielleicht bei der Gelegenheit auch mal wieder eine Zeitreise in meine Kindheit machen und den Westfalenpark besuchen. Ohne Fernsehturm. Das war immer zu teuer :)
Ich erinnere mich zum einen an meine Kindheit und zum anderen an die Kindheit meiner Kinder. Zu beiden Zeiten wurde „Boccia“ gespielt. Ich erinnere mich noch genau, dass die Kugeln identisch waren (optisch) zu denen in diesem Beitrag. Nur die „Zwiebel“ war von anderer Farbe (weiß nicht mehr welche). Ich erinnere mich auch an den Stöpsel an jeder Kugel. Wenn man den entfernte, was mit Fingernägeln eher nicht ging, dann lief die Flüssigkeit raus, mit denen die Kugeln gefüllt waren, und die die Kugeln schwer machten. Selbstverständlich hat mich das immer interessiert, was sich wohl „hinter“ den Stöpseln verbarg. Der Unterschied zum Beitrag war, dass die Spielgeräte in einer Art Gitter-Trage-Tasche enthalten waren, die im Lauf der Jahre nach und nach ihren Geist aufgab.
Was dann aus den Kugeln wurde, kann ich geistig nicht mehr nachvollziehen. Heute gibt es sie wohl nicht mehr.