Die Wunder von Watzling
Ja, es gibt sie noch, heute allerdings viel seltener, die Wucht in Tüten. In Watzling zum Beispiel, da gib es so etwas.
Für die Jüngeren: Atemberaubend musste etwas sein, hervorragend, unglaublich… das war dann die Wucht in Tüten. Die Redewendung geht zurück auf Fritz Krüger, der in den 50ern als Oskar vom Pferdemarkt einer der bekanntesten Straßenhändler Hamburgs war. Und der bot lautstark die Wucht in Tüten an, was weit über Hamburgs Stadtgrenzen hinaus zu einem festen Begriff wurde. Auch im heimischen Westfalen sprach man davon, wenn man etwas ganz und gar Großartiges meinte.
Und es gibt noch etwas in Tüten: Wunder. Früher gab es sie in Papier, also die Tüte, darin etwas Süßes, „was zu schnuckern“, wie wir sagten. Das waren fast immer Kaugummikugeln, ein Bonbon oder ein Nappo, eben all das, was eine geraume Zeit in einer Papiertüte überdauern konnte, was Weingummi schon mal ausschloss. Dazu, und das war das eigentlich Spannende, etwas, was Kinderherzen höher schlagen ließ. Eine Spielzeugfigur, Aufkleber, eine Plastikpfeife. Alles, was man nicht unbedingt braucht, manchmal nicht mal haben will, aber darum ging es auch gar nicht. Es ging darum für sein Taschengeld etwas zu kaufen und sich überraschen zu lassen: Die Spannung und die Hoffnung, vielleicht ein kleines zusammensteckbares Flugzeug, dass man mit einem Gummiband abschießen konnte, vielleicht eine coole Cowboyfigur oder die Schiripfeife aus der Tüte zu ziehen. Das gelang nur selten. War es weniger Tolles, animierte es uns keineswegs, eine zweite oder dritte Tüte zu kaufen, um vielleicht doch noch den ganz coolen Fang zu machen: Das Wunder, oder eben die Wucht in Tüten. So locker saß das Geld nicht.
Das ist lange her, doch was gut ist, kommt eben in neuer Verpackung wieder daher.
Ich erfahre von neuen Wundertüten. Die werden nun nicht mehr beim Kiosk oder Zeitschriftenladen angeboten sondern im Automaten. In Watzling, einem winzigen Dorf, kaum 15 Kilometer von hier entfernt, steht jetzt ein solcher Automat. Ich lese davon in der Lokalzeitung. Zwei Studenten haben einen alten Lebensmittelverkaufsautomaten umgebaut und machen hier auf dem elterlichen Hof des Einen eine Testphase für ein Geschäftsmodell.
Angeboten werden Retouren von Amazon, also Produkte, die an Amazon zurückgeschickt wurden, nicht wieder in den Neuverkauf gelangen und so für kleines Geld für Großhändler zu haben sind. Alles in den Original-Retourenbeuteln, so dass auch die beiden Aufkäufer, die den Automat aufgestellt haben, selbst nicht wissen, was drin ist.
In den Originalretourbeuteln, diese besprüht, damit man auf gar keinen Fall den Inhalt erahnen oder etwas über die Rücksender:innen kann, liegen die Säckchem nun im Automaten. Für einen 10er kann man ein Fach öffnen und sich über eine Wucht in Tüten freuen, oder auch nicht. Black Box: Secret-Pack nennen die Studenten das Ganze, klar: Die Wucht oder das Wunder in Tüten wäre vielleicht etwas zu retro, etwas zu banal.
Egal. Ich mache die Probe aufs Exempel, einen Zehner ist es mir wert. Wundertüten fand ich, obwohl ich eigentlich gar kein Fan von Überraschungen bin, trotzdem spannend. Im Zeitungsartikel ist davon zu lesen, dass in einer mal ein wasserdichter Schwimmsack (kann man immer brauchen) war, in einer anderen Minilautsprecher (nun ja) oder sogar mal eine Smartwatch (her damit). Ist was Nützliches drin: Bingo. Wenn nicht, dann ist das eben so. Ein Blogtext (nämlich dieser) springt aber in jedem Fall dabei heraus. Damit unterstütze ich auch eine Idee, die ich höchst originell finde, so gut, dass ich riskiere, für 10 Euro irgendetwas zu kaufen, was ich gar nicht gebrauchen kann und folglich gar nicht haben will. Wenn nämlich die Wunder von Watzling funktionieren, wollen die beiden weitere Automaten aufstellen und beschicken. Denn nach Watzling fahren eben nur Leute aus der Region, in der großen Stadt wäre das ganz was anderes.
„Der Automat steht erst seit kurzem in Watzling, ist aber ein Magnet für Jung und Alt“ stand im Artikel in der Zeitung. Zwar gehöre ich wohl eher zur letzteren Kategorie, aber für manchen Scheiß wird man eben doch niemals zu alt.
Schon auf dem Weg überlege ich, ob ich ein oder zwei Secret Packs kaufen soll. Mit zwei Paketen verdopple ich die Chance, etwas Nützliches zu bekommen, verdopple aber auch ein Investment. Mann, ist das spannend. Wie eine Lotterie oder eine Losbude – nur ohne Nieten.
Oder wie das Ersteigern von Koffern am Flughafen, die liegengeblieben sind und deren Inhaber nicht mehr ermittelt werden konnte. Ok: Hab ich nie gemacht. Aber hier will ich’s wissen.
Ein äußerst charmantes selbst gezimmertes, winziges Hinweisschild am Eingang des Weilers Watzling bestätigt mir, dass ich hier richtig bin und weist mir den Weg.
Nicht, dass man sich dort verfahren könnte, aber so ist es halt besser. Falls einer von Auswärts kommt.
Eine Minute später stehe ich vor dem Automaten. Es ist vollkommen unmöglich, zu erahnen, was man kaufen wird. Nur anhand der Größe eines Pakets kann man vielleicht das Eine oder Andere ausschließen. Aber Rätselraten ist vollkommener Schmarrn.
Irgendwann wähle ich eine Zahl, das Rad dreht sich, die Tür öffnet sich und dann stehe ich da mit meiner Wundertüte. Leicht ist sie, das schließt schon mal ’ne Menge aus, alles, was mir Hilfe geben könnte. Da die Sprühfarbe etwas abplatzt, lass ich das mit dem Ertasten, das saut mir nur die Pfoten ein.
Ich widerstehe nur schwer dem Drang, die Wundertüte das Secret Pack gleich an Ort und Stelle aufzureißen…
Beherrschung, Monsieur, Beherrschung.
Auch daheim lasse ich die Tüte noch einen Moment liegen: Auf der Waage. 57g samt Verpackung wiegt es. Was mag das sein?
Ein paar Socken? Ein Notizblock? Ein Kopfhörer? Ein Nähnadelset? Ein Lippenstift? Ein Spielzeug? Ein Kameradeckel? Ein Pinwandmagnet?
Es ist sooooo spannend.
Soll ich, wenn ich es weiß, bei Amazon den Originalkaufpreis recherchieren, um herauszufinden, was ich gespart habe?
Vorher schreibe ich noch den Beitrag weiter, der Authentizität dieses Textes geschuldet, die Spannung steigernd. Immer schneller sausen die Finger über die Tastatur, damit ich endlich mit schreiben fertig werde.
Dann ist der Moment gekommen – ich reiße die Tüte auf. Werde ich jubeln, mich freuen? Lachen? Wird es etwas vollkommen Unsinniges sein? Falls das so sein sollte, werde ich es, so beschließe ich, mit Humor nehmen.
Und so kommt es dann auch: Etwas Textiles liegt vor mir auf dem Tisch.
Die nähere Begutachtung weist es als ein Kleidungsstück aus, das ganz sicher nicht für mich gemacht wurde.
Größe L – wie bitte soll da eine wie ich da rein passen? Ich lache herzlich und überlege, wie ich das Textil einer sinnvollen Nutzung zukommen lassen kann. Das nächste Weihnachtswichteln kommt bestimmt und zack, da geht es auf die Reise.
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Ha, schön beschrieben. Die Wundertüten sind bei uns überall auf den Flohmärkten zu finden. Immer großer Andrang. Ich habe mich bisher beherrscht, aber irgendwie ist das wie früher an den Losbuden auf der Kirmes. Immerhin hab ich da mal einen Bären gewonnen. Inzwischen ist bekannt, dass wohl 90% der Plastiktüten wohl Klamotten enthalten, daher sind gerade Paketverpackungen sehr begehrt. Aber es werden immer mehr Sachen in den Weichtüten verschickt. Wer weiß also?
Hat schon mal irgendwer etwas brauchbares aus diesen Wunderautomaten gefischt?
Laut Zeitungsbericht gab es mal eine Smartwatch in einem Packerl.
Mehr weiß ich leider nicht.
Vielen Dank für diesen morgendlichen Lacher, Lutz.
Hoffentlich kommen beim Wichteln keine irritierten Blicke auf.
Gruß, Nati
Mittlerweile mehren sich die Ideen, was ich noch alles damit an Unfug machen könnte… Und Nein: Anziehen gehört nicht dazu.
Sehr schöner Text! :-)
Sehr spannend…
Vielen lieben Dank, Thorsten.
WUNDERbar. In meinre Zeit als Mitglied der Verlagsleitung beimVogel-Verlag bin ich regelmäßig auf der Autobahn von München nach Würzburg gerauscht (ja ja, „gerauscht“ … ich war jung und hatte das Geld …). Zwischen Nürnberg und Würzburg kam ich immer an Schlüsselfeld vorbei. Wenn man rechts aus dem Autofenster blickte strahlte einen in großen Lettern über einer grauen Fabrikhalle der Schriftzug „Wundertütenwerk 2“ an. Jahrelange bin ich vorbei gefahren und immer wollte ich mal rausfahren und mir diesen Zauberladen ansehen. Ein Wundertütenwerk, eine Fabrik, in dem nichts anderes produziert wurde, als diese wunderbarwunderlichen Wundertüten. Ich hab es nie getan. Irgendwann in den 90igern hat die Firma „Heinerle“ (schon dieser Name …) die Fabrik in Schlüsselfeld zugesperrt. Das Wundertütenwerk 2 wird mir immer ein unerfüllter Traum bleiben. Man muss sich solche Träume beizeiten erfüllen, sonst bleiben einem die Wundertüten auf ewig verschlossen. Im Moment träume ich von Lutz im schwarzen Seidenteilchen. Und nein, es ist kein wirklich erotischer Traum. Aber sehr komisch … Und nochmal nein, er wird sich wohl nie erfüllen …
Ich hätte das sicherlich auch mit Bürgergeld ausprobiert.
Hier in Hamburg sollen auch 2 oder 3 dieser Automaten stehen.
Mir waren Sie irgendwie zu weit weg.
Dir viel Spaß beim wichteln.
Ja Wundertüten sind was tolles.
Gruß aus Hamburg Ann-Kris
Ich lache mit dir. Selbst ich würde dieses Dessous nicht haben wollen und würde es wohl in eine Kleidersammelbox werfen. Es gibt übrigens noch Wundertüten für Kinder, ich habe sie in Spielzeugläden entdeckt, sie sind leider ähnlich teuer, sodass ich mich fragte, wie sich denn ein Kind diese leisten könnte. Für uns waren sie erschwinglich, obwohl unser Taschengeld nicht gerade üppig gewesen ist.
Herzliche Grüße, Ulli
Noch großartiger wäre es gewesen, wenn du es bis zu Ende durchgezogen hättest … Ich meine Selbstversuch ist Selbstversuch …
Aber nein, aber nein. Das Ende war schon erreicht. Alles andere wäre eine Farce.