Spaziergänge (#34): Maja, Mord und Mama Merle im Berglwald
Wo anfangen? Am besten der Reihe nach:
Der Berglwald?
Der Berglwald ist ein kleines Waldstück, geprägt von Kiefern, Eichen, Buchen und Birken auf der Kiesschotterfläche Münchens. Fichten, die einst in dem Wald angepflanzt wurden, werden nun wieder nach und nach herausgezogen. Der Um- bzw. Rückbau ist in vollem Gange. Zu finden ist der Berglwald in unmittelbarer Nähe des Schlosses in Oberschleißheim.
Es ist ein sehr schönes, wenn auch nicht gerade leeres Spaziergebiet, das im Rahmen meiner Erkundung des Münchner Nordens an einem Feierabend auf meiner Liste steht. Geschotterte, gut befestigte Wege führen durch den Wald, Wege, die hier Straßen genannt werden und tatsächlich auch befahrbar wären.
Sie sind stark frequentiert von Spaziergängern, Joggern und Radlern. Das Terrain gehört eben zu den begehrten Ausflugszielen. Und darüber hinaus lockt ein Trimm-dich-Pfad im Süden ambitionierte Sportler an. Also mich nicht, deshalb bin ich nicht hier hergekommen. Einige Geräte dienen körperlichen Ertüchtigungen, die ich noch nie ausstehen konnte, schon nicht als Kind und noch weniger als obligatorischer Bestandteil der Grundausbildung der Bundeswehr, weshalb ich seinerseits meine Teilnahme an dieser Institution auch nachdrücklich verweigert habe (nicht nur deshalb übrigens!). Ich will sowas nicht tun.
Und jetzt stelle ich mich großer Genugtuung fest, bin ich zu alt für den Scheiß, sowohl, was die Bundeswehr angeht, als auch für das Hangeln an Leitern, die man statt sie an Hauswände zu stellen quer auf Pfosten im Wald schraubt. Aber wie gesagt: Deshalb bin ich ja nicht hergekommen. Mich locken der Wald und sein frisches Grün.
In der Mitte des Berglwaldes gibt es eine Wirtschaft mit Biergarten. Beides hat geschlossen (Ruhetag). Einziger hungriger Gast ist eine Krähe, die auf dem Parkplatz vor den Fahrradständern nach Fressbarem sucht.
Hinter der Hecke brummt der Rasenmäher. Man rüstet sich für das anstehende Pfingstwochenende, an dem es wohl recht zugehen wird.
Dem Biergarten gegenüber steht in einem kleinen Garten eine Privatkapelle. Ich erfahre, dass es hier einst einen kleinen Kalvarienberg gab, ein „Bergl“, das dem Wald den Namen gab. Ein obskurer kleiner schwarzer Engel, dem man einen Rosenkranz umgehängt hat, hockt neben der Tür.
Mehr gibt es dort nicht zu sehen. Alles ist verrammelt und verriegelt. Nur die kleine Verkaufshütte eines Biobauern wäre betretbar. Aber ich brauche weder Eier noch Mehl noch Zwiebeln.
Mein Hauptziel bei diesem Spaziergang liegt inmitten des Waldes: Es ist das Marterl am Hack Winkler Tatort. Kommen wir zum
Mord
Dazu biege ich in einen Seitenweg ein, um von diesem abermals in einen schmalen Pfad abzubiegen. Schwer ist das Marterl nicht zu finden. Es amüsiert mich, dass bei Google Maps, wo die Stelle ganz genau eingezeichnet ist, Leute Quengelkommentare hinterlassen haben, dass sie es nicht haben finden können, weil die Koordinaten nicht ganz korrekt waren: Stoderer halt, keine Waldläufer. Und keine Nutzer von Outdooractive.com.
Über den Hintergrund des Marterls habe ich mich vorab schlau gemacht. Viel ist im Netz erstaunlicherweise nicht zu finden. Aber wenigstens das:
An dieser Stelle wurden 1959 die damals 16jährige Edeltraut Winkler und ihr 19jähriger Freund Wolfgang Hack ermordet.
Der Fall ist bis heute ungeklärt, ist aber trotz allerbesten Potentials für einen Krimi oder einen Spielfilm nahezu vergessen – anders als zum Beispiel die Morde von Hinterkaifeck, die nach über hundert Jahren auch heute noch bestens bekannt sind.
Die Presse damals schrieb von der ungewöhnlich hübschen Edeltraut. Man spekulierte, dass es die Tat eines abgewiesenen Verehrers gewesen sein könnte, der dem jungen Paar im Berglwald aufgelauert oder ihnen gefolgt sein könnte. Er schoss Wolfgang in die Brust und in den Kopf und Edeltraut in den Rücken. Er muss, so ist zu lesen, mit den beiden bekannt gewesen sein, zumindest wusste er, dass sie oft im Wald spazieren gingen und wo.
Ein Tatverdächtiger wurde gefasst, es konnte ihm nichts nachgewiesen werden. Viele Spuren gab es nicht. Theoretisch könnte der Mörder noch immer leben und heute ein alter Mann von rund 80 Jahren sein.
Vor einigen Jahren wurde das Marterl von Ortsansässigen liebevoll wieder hergerichtet, nachdem es jahrelang im Wald vor sich hin verrottete. Ein Bild zeigt Edeltrauts Gesicht. Ob der Mörder wohl noch mal am Ort des Geschehens war? Ob er das Marterl samt Bild kennt?
Es knarzt über mir im Geäst. Immer wieder schiebt der Wind die Wolken am Himmel vor die Sonne. Er lässt die Äste der alten Kiefern ächzen.
Wolfgang und Edeltraut sind übrigens nicht die Einzigen Toten des Waldes. 2010 wurde eine weitere Leiche im Wald gefunden, dieses Mal im Berglbach. Und ein kleines Kreuz im Südteil erinnert an WN, geboren am 26.03.1933, gestorben am 30.06.1986. Auch hier gäbe es möglicherweise eine Geschichte. Aber welche?
Maja und Mama Merle
Auf dem Rückweg will ich unbedingt an der Biene-Maja-Linde vorbei. Hier, so erzählt man sich, habe Waldemar Bonsels 1912 den berühmten Kinderbuchklassiker Die Biene Maja erdacht. Ob es genau diese eine Linde war, ist nicht mehr überprüfbar, zumindest aber war es unter einem Baum im Berglwald. So steht es auf einer Hinweistafel. Eine Bank daneben, ein Brückerl über den Bach. Der Ort könnte wirklich inspirierender sein, wenn die grobe Brücke ein wenig stilvoller ausgefallen wäre und von der Linde nicht nur ein Stumpf…
und etwas Totholz im Gelände übrig geblieben wären. Sie wurde nämlich mittlerweile flach gelegt, Bonsels und Biene hin oder her.
2012 wurde allerdings im Berglwald eine neue Linde gepflanzt, zum hundertsten Geburtstag der Biene Maja – ein Baum im Wald, den man vor lauter anderen Bäumen kaum wahrnimmt. Auch nicht gerade anregend.
Trotzdem lasse ich mich nieder und warte darauf, dass sich die Muse Thalia zum Kusse nähert. Einen Welterfolg würde ich auch gerne schreiben. Noch bevor es aber so weit kommt, kreischt ein etwa 5jähriger Junge: „Mama, Mama, schau. Ich habe einen Bach gefunden!“
Er kommt aus dem Wald angerannt, hinter ihm Mama Merle mit zwei Freundinnen und weiteren Kindern. Sofort will der Bub anfangen, am Wasser zu spielen, aber Mama Merle, strähnig blond und seit Beginn der Corona-Pandemie ohne Friseurtermin, dazu jack-wolfskin-bejackt und allem Augenschein nach altgebärend, entgegnet, dass dazu keine Zeit mehr sei. Das macht sie mit einer Stimme, die alles andere als musenhaft in meinen Ohren klingt, eher so wie die der oben erwähnten Krähe – vorausgesetzt, man setzt sie in ein altes Ölfass. Also die Krähe.
„Luca, wir müssen wirklich jetzt weiter. Es ist schon furchtbar spät“, ermahnt sie um 17.42 Uhr (laut meinem Telefonino, denn ich will sofort wissen, was solche Personen als „furchtbar spät“ bezeichnen) ihren Sohnemann. Jede Silbe schmerzt in meinem Gehörgang. Sei still, Frau. Das ist ja nicht zum Aushalten.
„Und Tante Anja muss uns noch aus diesem riesigen Wald herausführen. Die kennt nämlich den Weg!“. Tante Anja nickt beflissen, sagt aber nur „Klar, Merle!“ Dann schweigt sie, denn ihr Mund ist noch gut gefüllt von irgendwelchen Sticks, die sie aus einer offenen Tupper-Dose herausgefingert und sich in den Mund geschoben hat. Sicher sind das Überreste des Picknicks oder der verschmähten aber höchst gesunden Wegzehrung für die Brut.
Luca will aber spielen und diskutieren, Mama Merle nicht, die Situation eskaliert nur deshalb nicht, weil Tante Anja, die dritte Frau und deren durchweg barbierosafarbene Töchterwolke unbeirrt weiter gehen und Luca, der nicht allein zurückbleiben will, den anderen hinterherrennt. Motzig natürlich. Laut lärmend macht sich die Schar auf den furchtbar weiten Weg hinaus aus dem riesigen Wald. Insider wissen, dass in 50 Metern Entfernung die Bebauung von Oberschleißheim beginnt.
Um Abstand und Zeit zu gewinnen, schicke ich ein Handybild der abgesägten Linde in die digitalen Netzwerke in der Hoffnung, dass die Muse mich vielleicht doch noch aufsucht und beknutscht. Aber der Teuersten ist der Rummel vermutlich auch zu viel.
Auf dem Rückweg zum Auto habe ich Merle, Anja und die anderen bald wieder direkt vor mir. Also biege ich besser in einen Trampelpfad ab.
Ich könnte sonst nicht garantieren, dass nicht am Ende im Wald ein knappes Dutzend weiterer Marterl aufgestellt werden müsste.
Immerhin hätte ich dann eine wunderbare Geschichte zu erzählen – sicher ein Welterfolg. Nur halt ohne Bienen.
Vielen Dank fürs Lesen. Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn Ihren Freunden weiterempfehlen – z.B. über Facebook, Twitter, in Internetforen, Facebookgruppen o.ä. Haben Sie Fragen oder Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie bitte das Kommentarfeld. Gern dürfen Sie meine Artikel auch verlinken.
Wenn Ihnen dieser Beitrag gut gefallen hat und Sie mir spontan einen Kaffee spendieren wollen, dann klicken Sie bitte auf den Kaffeebecher. Mehr dazu hier.
In meinem Webshop finden Sie ganz neu und exklusiv das Fotobuch Schmetterlinge und Wasserfälle – Bilder und Notizen einer Reise durch Bosnien und Herzegowina. Weiterhin sind im Webshop u.a. auch erhältlich: Mein Fotobuch Im Süden – Bilder eines guten Jahres und die fünf Fotobücher von Ursula Zeidler: Freie Schnauze – Weideschweine, Paare, Münchner Freiheiten – Zwei Jahre Theresienwiese April 2019 – April 2021, Augenblicke, und einfach Kinder.
Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann
Subscribe to get the latest posts sent to your email.