Bei welchem Satz könntest du ausflippen?

BlueSky hat es wirklich in sich.
Da schreibt einer auf der Social Media Plattform „Bei welchem Satz könntest du ausflippen?“ und fügt den Satz hinzu, bei dem er regelmäßig in de Luft geht. Ein anderer nimmt den Faden auf, dann ein dritter, ein vierter, am Ende ganz viele. So spült sich die Frage irgendwann zwangsläufig auch in meine Timeline und mir werden dutzendweise Sätze benannt, bei denen die User:innen ausflippen.
Das zurecht, nur allzu verständlich. Und ich überlege, was ich dazu beitragen könnte, denn bei vielen der zitierten Sätze stellen sich auch meine Nackenhaare senkrecht.
Wahllos liste ich mal einen Schwung auf, zwei Dutzend Sätze, von denen manche sehr häufig genannt wurden. Ich vermute, dass auch Sie viele dieser Sätze kennen und sich auch ihnen bei dem einen oder anderen die Faust in der Tasche ballt:

  • „Zuhause macht mein Kind das nicht.“
  • „Man darf ja gar nichts mehr sagen.“
  • „Stell dich (doch) nicht so an.“
  • „Früher haben die Brötchen noch 30 Pfennig gekostet!“
  • „Anderen geht’s viel schlechter als dir.“
  • „Bist du etwa immer noch nicht gesund?“
  • „Dazu gehören immer 2.“
  • „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“
  • „Ich bin nicht wütend. Ich bin enttäuscht.“
  • „Zeit heilt alle Wunden”
  • „Uns hat das auch nicht geschadet.“
  • „Mir hat es aber geholfen!“
  • „Das Geld muss erst erwirtschaftet werden.“
  • „Ich mache mit den Kindern in der Schule nichts für Halloween, weil das ist kein Brauch aus unserer Kultur.“
  • „Bist du ein Mann oder ne Memme?“
  • „Ich sag nur was ich denke“
  • „Sei doch nicht so empfindlich.“
  • „Das haben wir immer schon so gemacht!“
  • „Du hast Recht und ich meine Ruhe.“
  • „Von XY könntest du dir mal eine Scheibe abschneiden.“
  • „Sie sind eine starke Frau. Sie schaffen das.“
  • „Es geht mich ja nichts an, aber…“
  • „Guck mich an, wenn ich mit dir rede.“

Erstaunlich oft sind es Banalitäten direkt aus der Phrasendreschmaschine, hundert mal gehört, was es nicht besser macht, und wieder, wieder und wieder hervorgekramt von Eltern, Freund:innen, Kolleg:innen, Bekannten, Verwandten. Oft gut sind sie zwar gemeint, aber wenig bis gar nicht bedacht und vollkommen deplatziert. Mancher wirkt sogar wie ein Schlag in die Magengrube.
Mir fällt es schwer, selbst einen Satz beizusteuern, den ich viel zu oft höre bzw. gehört habe und der mich jedes Mal aufs Neue verärgert. Denn hinter den meisten der hier zitierten könnte ich umgehend ein Häkchen machen und kommentieren: „+1“ Was nichts anderes heißt als: Ja, mich nervt er auch! Bis zum Ausflippen! Gerade der letztzitierte „Guck mich an, wenn ich mit dir rede.“ wurde mir vor nicht allzu langer Zeit mal wieder in modifizierter Fassung „Du kannst mich ruhig angucken, wenn wir uns voneinander verabschieden“, zu dem ich mir immerhin einen Handschlag abgerungen hatte, entgegengedonnert. Die Resonanz: Kalte Verachtung. Mit dem Mann habe ich nie wieder ein Wort gewechselt – zugegeben, es ergab sich auch keine Gelegenheit mehr, bei dem wir hätten aufeinander treffen können; was gut ist.

Besser gleich ausflippen?

Der nicht lächelnde Autor dieser Zeilen als Teenager. „Schau nicht immer so ernst, lach doch mal!“ Nein!

Ich entscheide mich für einen anderen Satz, der mich heute noch zornig macht und entscheidenden Anteil daran trägt, dass ich mich nur ungern (wenn überhaupt) fotografieren lasse; nicht in der Gruppe und schon gar nicht im Einzelbild. Ausnahme bilden nur Selfies, weil ich mir selbst so etwas nie sagen würde:

„Schau nicht immer so ernst, lach doch mal!“

Ich weiß nicht, wie oft ich das gehört habe. Zigmal sicher, als ich Kind oder Teenager war, kam das dauernd von meinem Vater, wenn er mal wieder die Kamera auf die Familienmitglieder richtete, oft um den Film vollzuknipsen, bevor er ihn zum Entwickeln brachte.
Aber auch später – und nicht nur beim Fotografieren.
Auch im beruflichen Umfeld wurde mir mal nahe gelegt, nicht immer so ernst zu schauen, vielleicht nicht dauernd zu lachen, aber doch gelegentlich mehr Enthusiasmus und Begeisterung in meinen Gesichtsausdruck zu legen. Dabei finde ich nichts falscher und verlogener, als dauerenthusiastisches Grimassieren wie man es zum Beispiel bei Verkaufsprofis oft sieht. Gespielte Herzlichkeit, gespielte Freundlichkeit, gespieltes Interesse und vor allem: Ein ins Gesicht gemeißeltes, falsches Lächeln einer vermeintlichen Verbindlichkeit. Das nervt mich dermaßen, dass ich um alles in der Welt einen solchen Eindruck vermeiden möchte – nicht durch ernstes Schauen aber gelacht wird eben nur, wenn es was zu lachen gibt. Begeisterung geht auch ohne Grinsen.
„Schau nicht immer so ernst, lach doch mal!“ – da könnte ich ausflippen!

Ich schau wie ich schau – und nicht selten mit geneigtem Kopf, wie ich, wenn ich alte Fotoalben durchblättere, immer wieder bemerke.
Wem das nicht passt, der soll halt jemand anderen fotografieren oder mich aus dem Gruppenbild rausschneiden.
Punkt!

Kindheit - mein Opa und ich

Der nicht lächelnde Autor dieser Zeilen als Kind. „Schau nicht immer so ernst, lach doch mal!“ Nein!


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3 Antworten

  1. Nati sagt:

    Kann ich so unterschreiben.

  2. Trude sagt:

    Mein Favorit ist: „Man darf ja gar nichts mehr sagen.“

    😘😎

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