Ich bin ein Wassermann… irgendwie

Dass ich ein Wassermann bin, steht außer Frage. Menschen die in den ersten Wochen des Februars Geburtstag haben, gehören nun mal zu diesem Sternzeichen. Das hat aber nichts damit zu tun, ob sie wirklich ein begeisterter Wassermann sind, oder ob sie das nasse Element eher meiden. Viele der astrologischen Wassermänner gehen nur äußerst ungern schwimmen. Viele der astrologischen Jungfrauen sind ja auch in Wahrheit keine.
Mit Wassermännern aber konnte ich mich schon seit vielen Jahren identifizieren, und das, obwohl ich spät schwimmen gelernt habe, und mich im Wasser nie besonders hervorgetan habe, außer im Schulsport Schwimmen als Einzelsportart gewählt zu haben. Davon war in diesem Blog an anderer Stelle bereits zu lesen.
Meine engste Verbindung zu Wassermännern beruht – das ist kein Witz – auf Otfried Preußlers Kinderbuchklassiker. Und das kam so:
Ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, mein Bruder ein Jahr älter, als wir zu Weihnachten die ersten Bücher von Preußler geschenkt bekamen. Mein Bruder hatte Der Räuber Hotzenplotz auf dem Gabentisch, ich Die kleine Hexe. Obwohl unsere Großmutter, die sich immer unendlich viel Zeit nahm, uns die Bücher vorzulesen, versuchte, mich mit meinem Geschenk zu versöhnen, war ich mehr oder weniger enttäuscht und ein wenig neidisch auf meinen Bruder: Räubergeschichten. Das war’s. Das war spannend und aufregend. Da gab’s einen Diebstahl und Entführungen, einen Zauberer und eine Fee. Bei der kleinen Hexe war alles so brav, so sittsam. Das Buch schwelgte vor Gutmenschentum – ich fand, das war eine Mädchengeschichte, in der es fortgesetzt nur darum ging, das Richtige zu tun. Mit das zu schenken war nicht fair. Noch schlimmer wurde es, als vier Wochen später mein Bruder Geburtstag hatte (auch er ein Wassermann) und Das kleine Gespenst geschenkt bekam. Knapp drei Wochen später erhielt ich zum Geburtstag Der kleine Wassermann. Und wieder war das Ganze nicht richtig ausbalanciert. Ein Gespenst – das war klasse. Aber bitte: So eine Milchbubi-Geschichte von einem grünhaarigen Zipfelmützenträger, der auf dem Grund des Mühlenweihers lebt, zwar allerlei Streiche macht, aber nichts wirklich Spannendes erlebte?
Meine Eltern sahen das ganz pragmatisch – so hatten wir schnell alle Bücher beisammen, wir könnten ja bei Bedarf untereinander tauschen. Nur: Was hatte ich zu bieten? Eine alte Hexe und eine echte Kindergeschichte. Mein Bruder wollte nicht tauschen. Zu allem Überfluss erhielt er dann auch noch Neues vom Räuber Hotzenplotz. Und ich war der Gelackmeierte… bis ich (nicht aus Preußlers Feder) Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt  geschenkt bekam. Aber das ist eine andere Geschichte.
Notgedrungen freundete ich mich mit dem kleinen Wassermann mehr und mehr an. Meine Oma las es mir immer wieder vor und bald schon konnte ich es selbst lesen. Viel Text war das ja nicht – außer dem komplizierten Namen Cyprinus, wie Preußler dem granteligen Karpfen seinen lateinischen Gattungsnamen als Eigennamen verpasste, ging das schon ganz gut. Und irgendwann gefielen mir sogar die Abenteuer dieses ungestümen und neugierigen Jungen am und im Mühlenteich; wäre da nicht das Neunauge gewesen – eine Episode, die ich mir gern erspart hätte. Der kleine Wassermann hatte Angst vor diesem sonderbaren Fisch und ich irgendwie auch. Gesehen hatte ich noch nie einen, aber ich legte auch keinen Wert darauf. Diese Episode und vor allem den Albtraum des Wassermanns vom Neunauge hab ich lieber überblättert und mich den lustigeren Teilen gewidmet, zum Beispiel seine Beobachtung und seinen Kontakt mit den Menschen, die er zum Beispiel vom Grund des Mühlenweihers aus beobachtet. Und dort heißt es:
Schwimmen konnten sie alle miteinander nicht besonders gut, diese Menschen. Die einen schwammen so ähnlich wie Frösche, die anderen gar nur im Hundetrab. Und alle hielten beim Schwimmen den Kopf über Wasser. Es war ein lustiges Bild, wie die vielen roten Menschengesichter prustend und schnaufend auf dem Mühlenweiher herumschwammen.
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Aber noch lustiger sahen die schwimmenden Menschen von unten aus!… Deutlich hoben sich ihre Körper gegen die sonnenbeschienene Oberfläche des Weihers ab. Der kleine Wassermann fand es sehr drollig, wie sie die Glieder verrenkten und dabei doch nur so langsam vom Fleck kamen.
Ich fand das schwer beeindruckend und war wieder einmal etwas neidisch – der kleine Wassermann konnte schwimmen, nicht nur an der Wasseroberfläche sondern überall im Weiher, rauf und runter inklusive. Das war fast, als könne unsereiner fliegen. Das hätte ich auch gern gekonnt… also fliegen.
Das Buch ist mittlerweile ein wenig in Vergessenheit geraten. Selbst bei mir. Und das zu Unrecht. Nachdem ich das zerlesene Exemplar meiner Kindheit schon lang nicht mehr besaß, haben wir die Preußler-Bücher für unsere eigenen Kinder neu gekauft. So richtig gut aber kamen die Geschichten nicht mehr an. Das wundert nicht, schließlich sind die Erzählungen von fast schon biedermeierscher Behäbigkeit. Das ist nicht ganz die Lebenswirklichkeit von Kindern im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert. Und längst hat die Kinder- und Jugendbuchliteratur viele neue Stoffe auf den Markt gebracht.
Nach einer kleinen Facebook-Diskussion mit Freunden vor einiger Zeit hab ich mich wieder an den kleinen Wassermann erinnert gefühlt, das Buch aus dem Regal gezogen und noch einmal gelesen: Ein wenig schmunzelnd über Dinge, die mir als Kind nie aufgefallen sind (wie zum Beispiel eine Wassermannfrau unter Wasser auf einem Herd braten und kochen kann). Etwas angespannt war ich, ob das Neunaugen-Kapitel nun wirklich so gruselig ist wie ich es in Erinnerung hatte, und ein wenig wehmütig kam in mir die damalige Sehnsucht nach dieser so wunderbaren Welt zurück, in der ein kleiner Junge seine Abenteuer erlebt. Vieles hat sich seitdem verändert:
Mittlerweile kann ich schwimmen. Sicher gelingt mir das ein wenig besser als Preußler es beschrieben und Winnie Gebhardt-Gayler es so wunderbar illustriert hat. Aber im Vergleich zu echten Wassermännern bleibt es immer dilettantisch. Das ist mir klar. Bei meinen Runden im Weiher frage ich mich, was wohl der kleine Wassermann dazu sagen würde, wenn über seinen Kopf ein Mensch mit so merkwürdigen Schwimmbewegungen, künstlichen Schwimmhäuten an den Händen und einer künstlichen Fisch- oder Froschhaut am Leib immer im Kreis schwimmt?

Die Verwendung des Zitats, des Covers und derIllustration von Winnie Gebhardt erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Thienemann Verlags.

Mehr zum Buch: Otfried Preußler: Der kleine Wassermann. Thienemann Verlag.


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