Mediatipps (Teil 39): „Das Recht der Erde“ von Étienne Davodeau

Im Südwesten Frankreichs, auf halber Strecke zwischen Mittelmeer und Atlantik liegt die Tropfsteinhöhle Pech Merle – sie beinhaltet unglaubliche Malereien der Altsteinzeit, Bilder die zum Teil über 20.000 Jahre alt sind. Die Zeit haben sie überdauert, heute stehen die wenigen Besucher, die täglich die Höhle besichtigen, fasziniert vor den Bildern, sind beeindruckt von den Werken, die die Menschen damals uns hinterlassen haben.Cover Das Recht der Erde Etienne DavodeauZwanzigtausend Jahre später beginnt der französische Zeichner und Autor Étienne Davodeau seine Wanderung genau dort. Dass er als Künstler genau diesen Ort ausgesucht hat, ihn diese Bilder ganz besonders anmuten, da sie verständlicherweise auch die Wurzeln seiner Kunst darstellen, liegt auf der Hand. Quer durchs Land will er wandern und darüber ein Buch machen: Eine Graphic Novel, die in seinem Kopf auf dem Weg von Südwesten nach Nordosten konzipiert und später in seinem Atelier vollenden wird. Frankreich diagonal. Nicht im schnellen Schritt, nicht im Auto, nicht mit der Bahn. Zu Fuß. Dass er dabei Teile des Jacobwegs läuft, ist ein wunderbarer Sidekick – allerdings gegen die allgemeine Marschrichtung, worauf er oft genug hingewiesen wird. Aber Étienne Davodeau ist eben einer, der gegen den Strom läuft. Nicht aus Prinzip, sondern weil es sich zwangsläufig so ergibt. Sein Ziel nämlich ist das lothringische Bure.

Wie in der Pech Merle werden auch hier Menschen unter der Erde etwas hinterlassen, was unsere Artgenossen, so es dann noch welche gibt, noch zwanzigtausend Jahre später beschäftigen wird, etwas was überdauern wird. Nur ist es keine Kunst, keine Malerei. Es ist Müll. Genauer gesagt: Atommüll. Denn in Bure soll ein Endlager entstehen.
Diese Parallelsetzung zwischen Malerei und Müll , die beide Jahrtausende überdauern, ist geradezu genial. Und sich selbst dabei als kleiner Wanderer, als Einzelperson genau dazwischen zu begreifen, schafft eine Erzählung, die mich in ihren Bann gezogen hat. Schwarzweiß Bilder sind das Mittel der Wahl, feine Striche, behutsame Schattierungen – das war klug überlegt. Farbe, Bilder satter grüner Landschaften, blauer Himmel, das wäre zu wuchtig geworden, zu schwer, zu laut, zu erschlagend.
Für eine Graphic Novel gibt es erstaunlich viel zu lesen – viele Gespräche, die Étienne Davodeau mit Fachleuten zum Thema seiner Wanderung geführt hat, hat er in sein Buch eingearbeitet, so, als würden die entsprechenden Personen ihn vor Ort ein Stück des Weges mit begleiten und ihm Auskunft geben.
Das hat Tiefe, das wiegt schwer, das liest sich besser langsam, denn es will bedacht werden und wirken. Faszinierend zum Beispiel das Gespräch mit der Semiologin Valérie Brunetiere über die Warnzeichen, die auf dem radioaktiven Müll angebracht werden sollen. Wenn wir jetzt kaum in der Lage sind, Texte, die einige hundert Jahre alt sind, richtig zu entziffern, weil die Sprache sich verändert oder Bilder richtig zu deuten, die kaum mehr als 2.000 Jahre alt sind, wie sollen dann Warnhinweise 100.000 Jahre oder länger überdauern und trotzdem verstehbar bleiben? Eine gigantische Frage, für die es eigentlich keine Antwort geben kann.

Mein Fazit: So viel Dichte, so viel Tiefgang, so viele kluge Gedanken, so viel Hingabe, so viel Liebe für das Recht der Erde, so viel banges Hoffen – und das alles in einer Graphic Novel. Es ist der mit Abstand komplexeste „Comic“, den ich je gelesen habe. Und der textlastigste.

Wunderbar! Und frustrierend, wenn man bedenkt, was wir bedenkenlos unsererer Erde antun.


 

Jetzt hier kaufen (Das Buch gibt es aber auch über die ISBN bei Ihrem Buchhändler):

Davodeau Étienne: Das Recht der Erde

Gebundene Ausgabe / 216 Seiten / Verlag: Carlsen Comics / 09. Januar 20203/ Sprache: Deutsch, übersetzt von Tanja Krämling
ISBN-13 ‎ 978-3551771308

Preis: 22,00 €

Auch als Kindle-eBook erhältlich


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Das Recht der Erde

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