Gastbeitrag zur aktuellen Blogparade: Dralon und Trevira
Von Gunda Meyer de Rojas, die kein eigenes Blog betreibt, kommt ein wunderbarer Gastbeitrag zum Thema:
Ich kann mich an einige Begebenheiten aus der Zeit erinnern, als ich drei war. Aber zehn? Diese Phase habe ich komplett verdrängt. Für Verdrängung gibt es immer einen Grund. Meist einen unangenehmen.
Auf alten Fotos lache ich immer. Klar. Ich war ein braves Kind. Wenn es hieß „Lach mal!“, dann gehorchte ich. Während ich für Familienfotos lachte, trug ich synthetische Kleidung, in denen man entweder schwitzte oder fror. Kratzige Strumpfhosen, zu enge Schuhe, geerbt von Cousinen – oder noch schlimmer vom Cousin! Die Namen von bügelfreien und pflegeleichten Stoffen, wie Dralon oder Trevira, haben sich mir eingeprägt. Meine Mutter war verständlicherweise sehr begeistert von diesen Materialien, denn wir besaßen noch keine Waschmaschine. Mehmals in der Woche stieg sie mit einem Korb voll nasser Wäsche die Treppe zum Dachboden hinauf und am Tag darauf mit der trockenen Wäsche wieder herunter. Meine Aufgabe war es, Socken und vollgeschnupfte Stofftaschentücher im Waschbecken zu waschen.
Im Zuge des Nachdenkens kommen angenehmere Erinnerungen an die Oberfläche: Buden bauen, Banden gründen, durch den Wald stromern, möglichst weit weg von elterlicher Kontrolle und unserer kleinen, engen Etagenwohnung. In großen Kinder-Horden zogen wir mit dem Fahrrad oder mit Rollschuhen durch das Wohngebiet. Manche Rollschuhe hatten noch Eisenräder. Wer sie an den Schädel bekam, kippte um. Im Winter waren wir stundenlang mit dem Schlitten unterwegs. In meiner Erinnerung lag damals häufiger Schnee. Vielleicht stimmt das nicht. Das Besondere bleibt ja bekanntlich besser in der Erinnerung haften als das Alltägliche.
Es war der Umbruch zwischen Wirtschaftswunder und Flower-Powerzeit. Die ersten Schlaghosenträger schlenderten durch die Straßen. Meine Mutter trug auf einmal Miniröcke und mein Vater ließ sich Kotletten wachsen. Leuchtende Farben erschienen an Tapeten, auf Geschirr und auf Krawatten. Vorboten von Hippiezeit und antiautoritärer Erziehung bahnten sich ihren Weg in das öffentliche Denken. Bis dato wurden Kinder zu angepassten Wesen erzogen, die den Mund hielten, wenn sie nicht gefragt wurden. Man gab „das gute Händchen“ zur Begrüßung. Mädchen machten einen Knicks, Jungs machten einen Diener. Wir bekamen Ohrfeigen, wurden verhauen. Das war ganz normal. Jetzt sollten Kinder plötzlich auch noch selbstbewusst, kreativ und ein bisschen frech sein?! Dieser Spagat war eine echte Herausforderung!
APO, Vietnam, der Schah, Nixon, Apollo8 – diese Schlagworte aus der Erwachsenenwelt schnappten wir auf. Sie hatten jedoch keinen direkten Einfluss auf unser Kinderleben. Wie alle 10-jährigen war ich ein neugieriges, wissbegieriges Kind auf der Suche nach Vorbildern, die mir sagten, was falsch und richtig, was gut und böse ist. „Die Amis“ gehörten derzeit nicht zu den Guten, so viel filterte ich aus Erwachsenengesprächen heraus. Orientierung lieferten Kinderbuchhelden wie Pippi Langstrumpf, Robinson Crusoe, Hanni und Nanni oder der liebe Gott aus der Kinderbibel. Wir haben dermaßen viel gelesen!!!
Wie fast alle Mädchen in dem Alter liebte ich Tiere, hätte gern eins für mich allein gehabt. Bei unseren beengten Wohnverhältnissen stand das nicht zur Debatte. Einmal haben meine beste Freundin und ich einen Dackel entführt, den wir in einem Schuppen beherbergten und mit Frolic fütterten. Zum Glück für den Hund flog die Sache nach 2 Tagen auf.
Zu meinem Freundeskreis gehörten Kinder, die unglaubliche Freiheiten hatten, wo tagsüber niemand zu Haus war, weil nicht nur der Vater sondern auch die Mutter arbeiten ging. Hier konnte sich Phantasie entfalten. Wir bedienten uns an den Kleiderschränken der nicht anwesenden Eltern und schlüpften in neue Rollen. Die erste heimliche Zigarette – Der Duft der großen weiten Welt! Wir legten Beatles- und Rolling-Stones-Platten auf und versuchten dem seltsam gequetschten und nach heutigen Maßstäben sehr braven Sound, der aus dem Deckel des kofferförmigen Plattenspielers ertönte, etwas abzugewinnen. Auch die ersten psychodelischen Klänge hörten wir uns an. Allerdings gefiel es uns besser, melancholische Lieder von „Alexandra“ oder die schwungvollen Songs von Udo Jürgens mit zu singen. In manchen Häusern gab es neuerdings Partykeller. Wir Kinder wussten nicht genau, was sich nachts Geheimnisvolles hinter diesen Türen, die mit Pop-Art-Mustern bemalt waren, abspielte, aber etwas Spannendes, Abenteuerliches musste es sein. Die Zeichen standen auf Umbruch, wir spürten, dass etwas Neues in der Luft lag. Der Spirit der 68-er ging auch an uns Kindern nicht vorbei.
Text: Gunda Meyer de Rojas
Alle Beiträge zur Blogparade finden Sie hier
Gunda Meyer de Rojas schreibt auf ihrer Website über Europäische Landschildkröten
Toller Beitrag :-) und dies zu einer Zeit als ich so ungefähr minus zehn war. Lg Stefan.
Was für ein toller Blog. Ich bin etwa gleich alt und erkenne vieles wieder. Dralon und Trevira haben mich durch meine Kindheit begleitet. Und auch das „Auftragen“ von Kleidern ist mir unvergesslich geblieben. Ich war die jüngste von einem Dreimädelhaus und neue Kleider waren für mich unvorstellbar. Aber trotz alledem war meine Kindheit einfach nur unvergesslich schön und abwechslungsreich.
Danke Gunda für die Entführung in die Kindheit.
Barbara Hentschke
Ein wundervoller Beitrag & wirklich interessant. <3
Lg Nicky