Disharmonie auf der ganzen Linie

Ein Gastbeitrag von Esther Laue

Während ich mich irgendwo im wilden Kroatien herumtreibe, Reptilien im allgemeinen und Schildkröten im besonderen suche, am Velebit-Kanal den einen oder anderen Kilometer schwimme und die Winnetou-Film-Drehorte abklappere, hält Esther daheim in Deutschland die Stellung.
Damit ist sie mehr als genug gefordert, denn Esther lebt in Dresden, jener Stadt, in der Riesenschildkröten im dortigen Zoo nach Münchner Hipstergetränken benannt und anschließend als Echse diffamiert werden. Dass auch sonst das Leben im sprichwörtlichen Dresdner Tal der Ahnungslosen eher eine Herausforderung darstellt, hat der vergangene Winter bewiesen, als die Stadt zum Anziehungspunkt zahlreicher Spaziergänger wurde, die mit Textzetteln bewaffnet Weihnachtslieder gegen Überfremdung ind Islamisierung anstimmten. Esther, wachsame und kritische Beobachterin ihrer Mitmenschen, vesorgt mich gern mit Fakten aus erster Hand.
Und Esther liebt Renate. Seit Jahr und Tag gehört sie zu den Stammleserinnen und hat längst
Renate als Gattungsbegriff für ihre Mitmenschen eingeführt, von denen sie überaus reichlich Exemplare in der Dresdner Straßenbahn antrifft. Längst gehört auch sie zum wachsenden Kreis der Renate-Spotter. Und so schreibt sie mir von ihrer neuesten Renate-Sichtung:

Im Sommer 2015 trägt Renate ein kurzes Kleid. Die Grundfarbe ist schwarz, mit großen roten Blumen. Absolut farblich nicht passend zum Kleid hat sie knielange, nicht zu eng anliegende, dafür unterhalb des Knies mit einer Schleife geraffte, weiße Leggings gewählt. Die trägt sie unter dem Kleid. Renate sieht aus, als hätte sie die Nachtwäsche angelassen und sich schnell ein Kleid übergeworfen.
Die Füße stecken in braunen Sandalen. So also traut sie sich auf die Straße.
Meine Renate ist mit ihrer Tochter unterwegs. Das Mädchen ist gleich der Mutter gekleidet, was die Kleidung der Mutter erst recht geschmacklos erscheinen läßt.
Beide sind offensichtlich zwecks Schulung zusammen. Renate zieht in der Straßenbahn eine ganz besondere Nummer ab, indem  sie ihre Tochter zu einem ihr genehmen Platz kommandiert. Diesen einmal besetzten Platz wechselt sie während der Fahrt drei Mal, wenn ein anderer, vermeintlich besserer freigibt. Missmutig macht die Tochter das absurde Wechselspiel mit und so kommt Renate schrittweise zu ihrem absolut bevorzugten Sitzplatz.Straßenbahn in Dresden
Renate muss in unserer Stadt zu einem bestimmten Ziel, hatte sich aber vorher nicht informiert, wie sie eigentlich dahin kommt. Kaum haben beide ihre ersten Plätze belegt, lassen sie alle Fahrgäste an ihrem Bemühen teilhaben, wie sie ihre Weiterfahrt planen.
Irgendwo müssen sie umsteigen, wo wissen sie nicht, also sucht die Tochter alle Anschluss-Verbindungen mittels Handy heraus.
Wir, die anderen Fahrgäste, erfahren zwengsweise, dass Renate und ihr Nachwuchs bis Wasaplatz in der Bahn bleiben werden. Dort steigen sie in die 61 und später in die 62 um. So hat es die Tochter mittlels mordernster Technik herausgefunden.
Aber die Mutter will es nicht glauben.
„Wieso müssen wir denn noch zweimal umsteigen?“, zetert sie lautstark, dass die anderen Leute in der Bahn sich peinlich berührt abwenden. So kennt man sie: Renate glaubt anderen Menschen einfach gar nichts.
An der nächsten Station steigt eine junge Frau mit Kinderwagen ein, ein junger Mann mit dunkler Hautfarbe und etwas gekrausten Haaren gerät dabei in den Focus von Renate. Er ist der jungen Frau behilflich, räumt seinen Platz, damit sie den Kinderwagen so stellen kann, um selbst in nächster Nähe zu sitzen.
Renate beginnt mit dem, was sie am liebsten tut: Ihrer Erziehungsaufgabe.
Sie erläutert ihrer Tochter, dass sich auch Asylanten zu benehmen hätten und gefälligst unseren Frauen aus dem Weg zu gehen haben. Wie immer wählt sie dabei eine Lautstärke, dass alle Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung zuhören können. Und das sollen sie schließlich auch. Renate wäre nicht Renate, wenn sie es nicht täte.
Der junge Mann aber dreht sich zu Renate um und sagt im klaren Deutsch, dass er in Dresden geboren sei, eine deutsche Staatsbürgerschaft habe und hier schon 20 Jahre lebe.
Sonst äußert sich niemand zu dem Vorfall.
Auch Renate nicht. Nicht etwa, dass sie sich entschuldigt und jetzt einfach mal still ist…
Nein: Sie ist sehr flexibel, wechselt einfach das Thema und konfrontiert ihre Tochter mit der Frage, ob sie denn wirklich noch zweimal umsteigen müssen. Den Mann würdigt sie keines weiteren Blickes. Statt dessen verlangt sie von der Tochter, noch einmal das Handy zu befragen. Sie ist der Meinung, auch die Buslinie 62 fährt vom Wasaplatz ab, da könne man sich die 61 sparen.
Das Mädchen zieht also gehorsam mit dem Daumen über ihr Display, kann aber beim besten Willen nicht finden, dass die 62 den Wasaplatz bedient.
Ich muss leider die beiden schon einige Haltestellen vorher verlassen. Zu gern hätte ich verfolgt, ob sie noch auf die Idee gekommen sind, den Streckenverlauf , der in der Straßenbahn ausgeshängt ist, zu lesen.
Wir befinden uns in der Linie 9, die am Haltepunkt Prager Straße direkten Anschluss zum Bus 62 hat. Aber warum sollte sie auch… die Dresdner Renate.Disharmonie in Dresden


Text und Bilder: Esther Laue.
Vielen Dank dafür.

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2 Antworten

  1. 6. Juli 2016

    […] Esther Laue in meinem Blog einen Gastbeitrag veröffentlicht. Renate war ihr damals gehörig in der Dresdner Straßenbahn auf den Senkel gegangen. Dieses Mal schildert sie ein ganz besonderes Renate-Erlebnis, das hier […]

  2. 22. August 2017

    […] einen Gastbeitrag zur Verfügung. Wir erinnern uns kurz: Renate war ihr damals gehörig in der Dresdner Straßenbahn auf den Senkel gegangen, ihre  Mittagtägliche Begegnung mit Renate im vergangenen Sommer findet […]

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