Politisches zum 9. November: Mehr Demokratie wagen

„Gestern, als Hitler die Autoausstellung in Berlin eröffnete und von dem Wirtschaftsaufschwung und den Fehlern und Verbrechen der früheren Regierung sprach, ging mir das Grundprinzip der gesamten Sprache des Dritten Reichs auf: Das böse Gewissen; sein Dreiklang Sich verteidigen, sich rühmen, anklagen. Niemals ein Moment des ruhigen Aussagens.“

Viktor Klemperer: Tagebücher, Eintrag am 19. Februar 1937

Ich kann es drehen und wenden, ich komme von diesem Zitat aus den Tagebüchern Viktor Klemperers nicht los. Brillant sind seine Analysen der Sprache des Dritten Reiches, seine Beobachtungen und Tagebucheinträge ein beklemmendes Zeugnis einer furchtbaren Zeit. Und wenn ich aus diesem Zitat etwas mitnehme, dann ist es die Beobachtung, dass sich die Sprache heutiger politischer Populisten (die ich natürlich nicht mit Hitler vergleiche) dieser gleichen Mechanik bedient; eben diesem Dreiklang „sich verteidigen, sich rühmen, anklagen. Niemals ein Moment des ruhigen Ansagens.“
Oder anders gesagt: Es wird polemisiert, gelogen, gepöbelt, gehetzt, gedroht und geschrien. Und ich denke, wir alle haben die Politiker:innen vor Augen, hierzulande wie anderswo, die öffentlich wenig an Inhalten und viel an schrillem wie schamlosen Populismus von sich geben. Das ist so ermüdend wie enervierend, das schafft eine kolossale Politikverdrossenheit. Man mag es gar nicht mehr hören und wendet sich mit einer gehörigen Portion Angewidertseins gegenüber dieser zunehmenden Hemmungs- wie Anstandslosigkeit seinen eigenen, privaten Belangen zu. Es gibt nicht wenige, die genau aus diesem Grund kaum mehr Nachrichten anschauen oder Zeitung lesen.

Ein wenig habe ich gezögert, zum 9.11. einen Blogtext, noch dazu einen politischen zu veröffentlichen, vor allem nach den Ereignissen der vergangenen Tage. Und wenn, dann wollte ich ihn eigentlich mit einem ganz anderen Zitat aufmachen. Gedacht hatte ich zunächst an dieses, bevor Klemperer dazwischen „grätschte“:

„Die strikte Beachtung der Formen parlamentarischer Demokratie ist selbstverständlich für politische Gemeinschaften, die seit gut 100 Jahren für die deutsche Demokratie gekämpft, sie unter schweren Opfern verteidigt und unter großen Mühen wieder aufgebaut haben. Im sachlichen Gegeneinander und im nationalen Miteinander von Regierung und Opposition ist es unsere gemeinsame Verantwortung und Aufgabe, dieser Bundesrepublik eine gute Zukunft zu sichern.“

So formulierte es 1969, also vor 55 Jahren, der frisch gewählte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung, in der auch jene berühmten Worte fielen:

Wir wollen mehr Demokratie wagen.

Täusche ich mich, oder sind wir weiter entfernt davon als damals, als Willy Brandt von strikter Beachtung der Formen parlamentarischer Demokratie sprach und von einem sachlichen Gegeneinander gepaart mit nationalem Miteinander von Regierung und Opposition?

Von dieser strikten Beachtung der Formen parlamentarischer Demokratie sehe ich immer weniger, vom sachlichen Gegeneinander und nationalem Miteinander von Regierung und (!) Opposition ist kaum noch etwas wahrzunehmen. Was die Sachlichkeit betrifft, ist alles verloren, seit der üble bis über die Grenzen der Widerwärtigkeit betriebene Populismus und die auf Lügen und Verdrehung aufgebauten Hetzereien gegen den politischen Gegner das öffentliche Bild bestimmen. Gemeinsame Verantwortung ist ein komplettes Fremdwort für die Opposition geworden. Aber selbst innerhalb der Regierungskoalition gebärdete sich die FDP viel stärker als Saboteur der eigenen Regierungsarbeit denn als Partner bis sie die Koalition platzen ließ. Ein Miteinander geht meinen Vorstellungen nach jedenfalls vollkommen anders.

Tatsächlich passen beide Zitate perfekt zusammen. Denn sie zielen auf das Gleiche: Sie beklagen bzw. mahnen vor dem Abhandensein jeglicher politischer Kultur. Das ist brandaktuell. Vor allem am 09.November! Vor allem, nachdem Donald Trump zum zweiten Mal bewiesen hat, wie man jenseits jeglicher Kultur, Anständigkeit, Scham, Würde und Niveau Wahlen gewinnen kann. Das hat längst Schule gemacht, auch hierzulande und wird den nun einsetzenden Wahlkampf mutmaßlich genauso widerwärtig machen wie den amerikanischen.

Journalist:innen bemühen gern so bedeutungsschwere Wörter oder Formulierungen wie „Schicksalstag der Deutschen“, wenn sie vom 9. November sprechen. Das machen sie an vier Ereignissen fest, von denen zumindest drei in der Tat die Geschichte unseres Landes signifikant verändert haben: 1918 war es die Ausrufung der ersten deutschen Republik, 1923 der gescheiterte Putschversuch Hitlers, 1938 der Höhepunkt der Nazi-Pogrome im Dritten Reich („Reichspogromnacht“, vormals „Reichkristallnacht“) und 1989 die Öffnung der innerdeutschen Grenze durch die DDR, heute als Mauerfall bezeichnet.
Auch die Bundesregierung nannte 2023 dieses Datum als einen Schicksalstag der Deutschen, „ein Tag unfassbaren Leides und ein Tag großer Hoffnungen“, und rief in Erinnerung an die Ereignisse zum Engagement für Demokratie auf.
Vorbehaltlos möchte ich mich diesem Aufruf anschließen. Mein Appell:

Wir sollten mehr Demokratie wagen.
Wir sollten sie sichtbar wertschätzen und verteidigen.
#Wirsindmehr!

Fotografie gegen rechts

 


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