Pappe weg – Teil 2: Empty Spaces
Empty spaces – what are we living for?
Abandoned places – I guess we know the score…
On and on!
Does anybody know what we are looking for?
Leere Räume und verlassene Orte…
Gibt es als S-Bahnfahrer Schöneres?
Ich glaube nicht. Das ist genau das, was ich suche.
Nach einer Woche als unfreiwilliger, berufspendelnder ÖPNV-Benutzer stelle ich fest: Der Personennahverkehr ist für mein Gemüt nicht gerade förderlich. So gesehen hat der einmonatige Füherscheinentzug tatsäclich eine gewisse bestrafende Wirkung – obwohl ich schon jetzt Zweifel daran hege, dass ich mich in Zukunft konsequent und diszipliniert an alle Geschwindigkeitsbegrenzungen halten werde.
Natürlich hat die Fahrt mit Bus, S-Bahn und Straßenbahn auch seine interessanten Seiten und kleinen reizvollen Momente. Selten habe ich so viel Blogs gelesen wie in dieser Zeit, selten so viele nette und inspirierende Twitter-Dialoge geführt. Das war’s dann aber auch schon.
Ich bevorzuge schweigsame Ruhe und gute Musik um mich – das ist mit einem iPod zwar machbar, trotzdem dringen zu oft Menschen akustisch durch meine Distanzzonen. So werde ich eines Abends unfreiwillig Zeuge, wie eine Frau, die auf einem Vierersitz hinter mir Platz genommen hat, ihrer Freundin Heidi den gesamten Verlauf des soeben beendeten Arbeitstages mitteilt. Passiert ist eigentlich nichts, aber auch darüber kann sie mindestens so viele Wörter verlieren, wie ich in mein Blog schreibe. Sie verabschiedet sich, schon an der Tür stehend mit „Servus Heidi“ genau an dem Bahnhof, an dem ich auch aussteige. Als sie vor mir die steile, ausgetretene Treppe herunterstapft, überlege ich kurz, ihr einen Stoß zu geben. Dann hätte sie wenigstens wirklich was erlebt, wenn sie unten aufklatscht – und etwas, was sie Heidi erzählen könnte.
Strafrechtlich dürfte man mir Notwehr zugestehen, zumindest aber eine Handlung im Affekt.
Am Morgen darauf wird eine andere Frau, Modell Bürovorsteherin, in der S-Bahn von einer Kollegin angerufen. Selbige ist verzweifelt, da es im gesamten Büro kein Strom gibt. Gemeinsam überlegt man, was man tun könne, die beiden einigen sich darauf, einen Elektriker kommen zu lassen. Da die Bürovorsteherin mir gegenüber sitzt, muss ich nicht mal meinen iPod leiser drehen, ich verstehe auch so jedes Wort. Und zwar von beiden.
Den Hausmeister mal anzurufen, damit der die Sicherungen überprüft und ggf. ein durchgebranntes Leuchtmittel, das eventuell einen Kurzschluss verursacht hat, zu erneuern, kommt ihnen nicht in den Sinn. Mir schon. Aber was geht mich deren Problem an? Die Frage könnte ich eigentlich auch direkt an die Frau stellen, die ihre Gesprächspartnerin immer wieder auf’s Neue vertröstet, in zwanzig Minuten sei sie da, dann sehe man weiter. Statt dessen frage ich mich ungefähr sieben S-Bahn-Stationen, was mich das stromlose Büro anderer Leute interessieren müsste, dann steige ich aus. Derweil wird weiter spekuliert, wie die Kollegin, die aufgesperrt hat, die Firma wieder unter Strom setzen könnte. Denn erst dann geht die Kaffeemaschine. Das ist offensichtlich das größte Problem.
Manchmal werden nicht nur akustische Distanzzonen durchbrochen. Einmal rutscht mir ein Typ, der auf dem Platz neben mir sitzt, fast auf den Schoß. Verzweifelt frage ich mein geliebtes Twitter, ob der sich endlich woanders hinsetzen würde, wenn ich jetzt anfange auf dem Handy sm-pornographische Inhalte zu betrachten. Denn der Typ rückt mir nicht nur auf die Pelle, er stiert auch immer wieder auf mein Display. Es ist ja nicht so, als ob es nicht noch weitere freie Sitzplätze gäbe. Ich hasse so etwas, das erwähnte ich doch bereits. Ein paar ordentliche Spanking-Clips, vielleicht rückt er dann freiwillig weg?
Überhaupt ist Twitter die perfekte Plattform, sich lästernd und meckernd über Mitreisende zu äußern: Wortgewaltig, hemmungslos und auf beipflichtende Zustimmung hoffend, die dann auch postwendend durch Besternen erfolgt. Nur die im realen Leben anwesenden Personen, um die es geht, bekommen nichts davon mit. Egal, ob sie penetrant nach Knoblauch oder ungeduscht riechen, ob sie sich in der Öffentlichkeit mit der Hand in die Jogginghose fahren und ihr Gehänge sortieren, ob sie ohrenbetäubend laut palavern oder in der Nase bohren: Ich bemerke das alles und petze auch alles bei Twitter, heische um Mitleid und Zuspruch. Und das bekomme ich auch.
Was liebe ich die Ruhe leerer Züge und ebenso leerer Bahnhöfe. Dass es so etwas gibt, habe ich sogar fotografieren können. Unglaublich, denn beide Bilder sind mitten in der Berufspendler-Hochphase entstanden.
Ok: Die S-Bahn wurde gerade erst bereitgestellt, Endbahnhof bzw. Streckenbeginn. Da konnte noch niemand drin sein.
Und noch etwas habe ich gelernt: die Münchner Verkehrsbetriebe sind sehr an der Seelenbalance ihrer Nutzer interessiert. Anders lässt es sich nicht erklären, warum vollgestopfte Züge mitten auf freier Strecke halten und dann geraume Zeit stehen bleiben. Glücklich, wer wie ich einen Sitzplatz am Fenster hat: Dann kann ich in aller Ruhe draußen Brennnesseln, Goldrute, Dost, Sommerflieder und anderem Gewächs meditativ beim Verwelken zusehen.
Wo findet man sonst schon eine solche Gelegenheit zu kontemplativer Betrachtung der Gegenwärtigkeit des Lebens und des Vergehens? Vanitas, vanitatum, vanitas…
Pappe weg! Alle Teile:
Teil 1 – Von der Amtsstube in die S-Bahn
Teil 2 – Empty Spaces
Teil 3 – Sein Leben in den Griff bekommen
Teil 4 – Wer schreibt, der bleibt
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Klasse geschrieben, auch für einen erklärten Fan von Öffis köstlich zu lesen. High Five!
Schade, ich hatte noch nie die Pappe weg. aber Dir tut das anscheinend sehr gut… naja, es hilft jedenfalls Stoff zu sammeln. Wirklich toll gepinselt. ;)