Boarding mit Herrn Carstens
Herr Carstens ist ein Charmebolzen erster Güte…
Was heißt, dass er so viel Charme hat wie ein Biomülleimer, nämlich gar keinen. Und von diesem Defizit macht er gerne lautstark Gebrauch, vor allem dann, wenn er genug Zuhörer um sich versammelt weiß. Nicht, dass Herr Carstens zur Kategorie „bigger fish“ gehört, im Gegenteil. Als eher kleiner Teichbewohner versucht er, sich umso unangenehmer, Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Herr Carstens heißt mit Vornamen Ulf (es tut mir Leid, aber das ist so, nur der Nachname ist geändert) und er ist ein wichtiger Mann. Zumindest meint er das. So wichtig, dass alles auf sein Kommando hören muss und er wenig zimperlich ist, wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen geht. Nur manchmal eben geht das nicht: Da nimmt das Schicksal keine Rücksicht auf Ulf Carstens.
Dieses Mal spielen die Lufthansa-Piloten Schicksal. Die nämlich streiken, was in der breiten Öffentlichkeit angesichts der Pilotengehälter auf wenig Verständnis und noch weniger Sympathie stößt, aber das ist eine andere Geschichte.
Betroffen von dem Streik sind zahlreiche innerdeutsche Flüge, die von Lufthansa angeboten werden und an diesem Tag annulliert sind. So auch der, auf dem Herr Carstens gebucht ist – und mit ihm seine charmante Gattin. Gottlob hat der Mann rechtzeitig gehandelt, seinen Flug storniert und sich bei einer anderen Fluglinie zwei neue Tickets gekauft. Für ein Vermögen. Das will niemand wissen, aber Herr Carstens erzählt es trotzdem am Gate in der Wartezone den Mitreisenden. Das macht er nicht, ohne seine Meinung zu dem Streik im Allgemeinen und der Lage der Nation im Besonderen kund zu tun. Das ist so unangenehm, dass man als unbeteiligter Zuhörer besser den Platz wechselt, oder gleich einsteigt. Denn das Boarding hat begonnen.
Proppenvoll sind an diesem Tag die Flieger von Air Berlin, die die Hauptstadt Richtung Hamburg, München, Köln, Frankfurt etc. verlassen. Kaum eine Maschine, die nicht bis auf den letzten Platz ausgebucht ist. Dass ich in einem Air Berlin Flieger von Berlin nach Hamburg sitze, hat allerdings nichts mit dem Streik zu tun. Ich hatte lediglich Glück, gleich dort gebucht zu haben, weil die Flugzeiten mir so am besten in den Plan passten.
Nun also sitze ich auf 14C und schaue geduldig dem Boarding zu. Es füllt sich.
Immer neue Menschen stapfen durch den Gang, die meisten übellaunig, was ich nicht verstehen kann. Denn erstens verlassen sie Berlin, was ihnen schon ein Lächeln ins Gesicht zaubern müsste. Sie, liebe Leser wissen ja: Berlin und ich sind nicht die besten Freunde. Zweitens haben sie ja alle einen Platz, sogar einen zum Sitzen, bekommen. Hunderte anderer, die mit Lufthansa fliegen wollten, hingegen nicht…
Die übliche Ungeduld macht sich breit. Ein älterer Mann entledigt sich gemächlich seiner Tasche im Gepäckfach. Das hält auf und erregt die Wartenden im Mittelgang. Dann zieht der ältere Herr noch den Mantel aus. Die Menschen hinter ihm werden ungeduldig. Und schließlich – ein Ächzen und Schnauben im Mittelgang – jetzt zieht der Mann auch noch sein Sakko aus, legt es ordentlich zusammen und anschließend ins Gepäckfach auf seine Tasche. Hat er nicht die Durchsage am Gate gehört, dass er das hätte alles schon draußen machen können?
Ich meine, wenn das jeder macht… Dann kommen wir ja nie in die Luft!
Bitte denken Sie nicht, dass das jetzt meine Meinung ist. Herr Carstens sieht das so, und das teilt er seiner Frau, die hinter ihm im Mittelgang steht, mit. Natürlich achtet er darauf, dass er es laut genug sagt, dass es nicht nur die anderen Wartenden um ihn herum hören, sondern auch der ältere Herr, der umständlich Platz genommen hat. Und zwar mittig zwischen Fenster und Gang, was den Reisenden, der am Gang sitzt, dazu veranlasst hat, sich noch einmal abzuschnallen und aufzustehen. Anders kommt der ältere Mann nicht zu seinem Sitzplatz.
„Eine Zumutung“, zischt Herr Carstens. Dann geht es endlich weiter. Die Karawane zieht an mir vorbei. Ich widme mich wieder meinem Buch, das ich mir in Berlin gekauft habe. Doch schon bald wird es wieder laut. Herr Carstens kehrt aus dem hinteren Flugzeugteil von seinem Sitzplatz zurück. In der Hand hält er seine Bordkarte. Erst jetzt ist ihm aufgefallen, dass seine Frau nicht neben ihm sondern einige Reihen weiter vorne sitzt.
„Also hören Sie mal“, faucht er die Flugbegleiterin an, die auf Höhe der Reihe 15 steht und unermüdlich und leicht festgefroren lächelt.
„Das ist eine Unverschämtheit!“
Die Flugbegleiterin schaut ihn irritiert an.
„Ich hatte extra gesagt, dass ich neben meiner Frau sitzen will.“ Das ist ein verständliches Ansinnen, aber kein Grund, einen solchen Aufstand zu machen.
Die Flugbegleiterin schaut sich die Borkarten an und versucht vergeblich, Ulf Carstens klar zu machen, dass sie nicht dafür verantwortlich ist und dass er sich erst mal beruhigen soll.
Offensichtlich ist Herr Carstens aber nicht willens, sich beruhigen zu lassen. Er hat ein Opfer für seine Empörung gefunden und er hat Publikum.
„Das Flugzeug ist komplett ausgebucht, Herr Carstens. Wir können versuchen, ob vielleicht ein anderer Fluggast den Platz mit Ihnen oder mit Ihrer Frau tauschen will“, schlägt sie geduldig und noch immer freundlich vor. Und sie bittet ihn angesichts des Streikes der Kollegen und der Fülle des Flugzeugs um Verständnis.
Die aber hat Herr Carstens nicht. Er wedelt mit den beiden Boarding Pässen, droht, sich an höherer Stelle zu beschweren und lässt die üblichen Verwünschungen los. Es ist ihm auch nicht zu peinlich, auf den enorm hohen Ticketpreis hinzuweisen und diesen quer durch den Flieger zu brüllen. „Wenn man so viel hinblättern muss, was an sich schon eine Frechheit ist, dann kann ich ja wohl erwarten, dass wir zusammenhängende Plätze bekommen.“ Mit einiger Genugtuung stelle ich fest, dass er mehr als das Doppelte von dem bezahlt hat, was ich hinblättern musste.
Jetzt ist der Flugbegleiterin das Lächeln vergangen, ich warte darauf, dass sie Herrn Carstens zur Ordnung ruft.
Das aber macht völlig unerwartet der ältere Herr: „Seien Sie froh, dass Sie ein Ticket bekommen haben“, schaltet er sich ein. „Die Stunde werden Sie es schon aushalten, dass Sie mal nicht neben Ihrer Frau sitzen. Und wenn nicht, dann steigen Sie halt wieder aus. Und jetzt ist Ruhe!“
Normalerweise hasse ich es, wenn Fluggäste im Flieger klatschen. Hier aber wäre es angemessen gewesen. Der Applaus bleibt aus, allerdings nicken einige andere Passagiere anerkennend. Das aber bekommt der ältere Herr gar nicht mehr mit. Längst ist er wieder hinter seiner Zeitung verschwunden.
Die Welt könnte so viel entspannter und friedlicher sein, wenn solche Leute mit dem Arsch zu Hause blieben. Zumindest meine…
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