Auf der Suche nach Kunst
Fluxus – das ist Kunst. Das Aktion und Interaktion, das ist die Idee an Stelle des Werks, Fluxus ist nicht neu und hat längst Museumsreife erhalten. So hängt im Neuen Museum Nürnberg das Werk Reading-word-piece des Fluxus-Künstlers Arthur Köpke. Ein ungelöstes Kreuzworträtsel, das jetzt zu ungeahnter Popularität kam. Denn eine 91jährige Museumsbesucherin zückte einen Stift und löste geschwind das gerahmte Rätsel an der Wand. Zum Entsetzen des Museumspersonals, die die Staatsanwaltschaft einschaltete. Das Bild nämlich ist mit 80.000,00 Euro versichert.
Derweil Deutschland einmal mehr lacht über die kuriose Meldung in der Presse und über unverständliche Kunst im Museum und dem pragmatischen Umgang einiger Menschen damit, schickt mir Freund Alex eine wunderbare Zusammenstellung an Kunstwerken, denen es nicht besser ging, veröffentlicht im Monopol-Magazin.
Von Beuys‘ berühmter Fettecke über Damien Hirst, Banksy bis zu Julian Freud spannt sich der Bogen der Künstler, deren Werke zersägt, übermalt, weggerissen oder einfach nur weggeputzt wurden. Nicht selten folgte im Nachgang Häme und Schadenfreude derer, die darin wieder mal den Sieg der normal denkenden Menschen über den „komplett abgehobenen versponnen, elitären Künstlerquatsch“ sahen. Sie fühlen sich von Kunst, die sie nicht verstehen und die angeblich der oft erwähnte „vierjähriger Neffe oder Enkel genauso auch könnte“, auf den Arm genommen oder sogar für dumm verkauft. Vielleicht ist das sogar was dran.
Manches Kunstwerk führt seine Betrachter an die Grenzen ihrens Verstandes – und die sind eben bei einigen schnell erreicht.
Auch Daniel Spoerri kann ein Lied davon singen. Er gehört zu den bedeutendsten lebenden Vertretern der Objektkunst. Als Erfinder der Eat-Art hat er sich unter anderem dadurch einen Namen gemacht, dass er die Reste von beendeten oder abgebrochenen Mahlzeiten mit Leim und Konservierungsstoffen fixierte, um so plastische Momentaufnahmen zu schaffen. Halb oder fast leergegessene Schüssel und Teller, Tischplatten finden sich längst in Museen und Galerien. Meist hängen sie an der Wand.
„Was ist denn daran Kunst? Das kann doch jeder…“ werden seine Werke oft in Frage gestellt.
In einem Gespräch im Bayerischen Rundfunk aber stellte Spoerri im vergangenen Jahr klar, dass noch längst nicht jeder leergegessene Teller ein Kunstwerk ist.
„Es geht“, so erklärte er, „zuerst mal darum, einem Objekt einen Sinn zu geben. Erst dann wird es Kunst.“
Darüber nachdenkend fahre ich in München über den mittleren Ring. Mein Ziel ist der Fasaneriesee im Münchner Norden, um darin schwimmen. Das hat nun mit Kunst wenig zu tun, schwimmen ist keine, jedenfalls nicht im engeren, gestalterischen Sinn.
Am südwestlichen Ufer des Fasanieriesees lagert’s sich dicht. Menschenmassen bevölkern die Liegewiese, die Bewohner der angrenzenden Münchner Stadtviertel genießen den warmen Sommerabend. Das tun sie auf Klappstühlen oder Deckenlandschaften, andere haben nur das mitgebrachte Handtuch ausgebreitet. Die einen grillen, die anderen rauchen Shisha, Kinder schlecken Eis oder planschen am flachen Ufer. Abwesend wirkende Menschen allerlei Altersgruppen jagen Pokemons. All das ist keine Kunst.
Die Kunst selbst steht direkt vor mir. Eine Rauminstallation eines Objekts mit dem Titel Gewässerter Wagen vor endlichem Ufer.
Allerdings gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass es sich hier um ein solches Werk handelt:
Die Installation ist die Arbeit eines im Anonymen wirkenden Künstlers. Es ist Streetart, Kunst im öffentlichen Raum, Kunst, die sich im Stillen vollzieht und ihre Größe erst dem entfaltet, der sie zu entdecken vermag. Spoerri hatte Recht: Entscheidend war, dass der Künstler diesem Wagen im Wasser einen Sinn gegeben hat.
Diesen:
Der Wagen selbst ist ein simpler Einkaufwagen eines Supermarktes, der seines herkömmlichen Umfelds beraubt ist. Mit den Mitteln der klassischen Verfremdung hat der Künstler das Spannungsverhältnis zwischen dem Metall des Wagens und dem seichten Wasser zum Ausdruck gebracht. Das Wasser steht dabei dem Wagen allerdings nicht „bis zum Hals“. Eher ist es wie bei einem Wanderer, der auf seinem langen Weg Erfrischung sucht und seine Füße kühlend ins Wasser. Das Wasser kühlt und erfrischt. Es ist der Quell und die Kraft des Lebens. Die Anspielung auf die rituellen Fußwaschungen, wie sie in den katholischen Kirchen am Gründonnerstag vollzogen werden, kommt dabei nicht von ungefähr: Es geht darum, den Füßen wieder auf Augenhöhe zu begegnen: „Füße sind ‚ih'“, wie die Vizepräsidentin des Zentralverbandes der Podologen und Fußpfleger Deutschlands, Annett Ullrich die Grundeinstellung der Menschen bedauert. Sie fremden Menschen zu zeigen, sei mit einem „ganz großen Schamgefühl“ behaftet. Denn im Alltag seien sie meist mit Strümpfen und Schuhen bedeckt. Deshalb sei der Anblick von Füßen „aus der Wahrnehmung der Menschen verschwunden“.
Das zeigt auch die Installation. Dass der unbekannte Künstler Gewässerter Wagen vor endlichem Ufer ganz bewusst im Flachwasser platziert hat, wird mehr als symbolträchtig. Einsam steht er im flachen Wasser, der Dinge harrend, die vielleicht mit ihm geschehen mögen. Entwurzelt ist er und zugleich zur Untätigkeit verurteilt, wie ein Arbeitnehmer, der Jahre seines Lebens in einer Fabrik verbracht hat und plötzlich in Rente geschickt wird. Er weiß ebensowenig mit sich und der Freiheit anzufangen wie dieser Einkaufswagen… niemand schiebt ihn an, aber es schubst ihn auch niemand umher.
Niemand belädt ihn und pfercht ihn zwischen seines Gleichen ein, um auf Abruf wieder zu funktionieren. Und genauso leer und ausgebrannt wie der Arbeiter nach einem langen Berufsleben ist auch der Einkaufswagen am Ende des Tages leer – einfach nur leer.
So gesehen ist das Ganze Kunst. Also sagen Sie jetzt bitte nicht, der Einkaufswagen sei Müll, und könne jetzt weg…
Vielen Dank fürs Lesen.
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