Eine Sau bleibt immer übrig
Jolanthe…
So hieß das Schwein. Jolanthe.
Es war von Steiff, hatte den berühmten Knopf im Ohr und war alles andere als ein kuscheliges Flauschi-Plüschtier. Sie gehörte zu der riesigen Herde meiner Stofftiere, die ich von der Kindheit herüber gerettet und in einer großen Plastikbox auf unserem Speicher eingelagert habe.
Aber Jolanthe ist nicht die einzige Sau auf unserem Dachboden. Ein anderes Plüschschwein hatte es sich ebenfalls dort gemütlich gemacht. Aber im Gegensatz zu Jolanthe bleibt die zweite Sau nicht durchgängig auf dem Speicher: Von Ende November bis Anfang Januar war sie zu Gast in unserem Wohnzimmer. Es, also das Schwein, trägt keinen Namen, dafür aber eine Nikolausmütze, fand vor vielen Jahren als Werbegeschenk einer Firma den Weg zu uns und war seitdem Teil unserer vor- und weihnachtlichen Dekoration: Unsere ganz persönliche Weihnachtssau. Sie führte uns durch die stade Zeit wie in anderen Familien Erzgebirgsschnitzereien, Adventskränze (so einen haben wir natürlich auch), Lichterbögen und rotnasige Rentiere.
Das machte die Sau nicht allein, auch allerlei anderer Dekokram wird jedes Jahr in mehr oder weniger guter Tradition im Haus verteilt: Sterne an den Fenstern, eine Lichterkette, Nikoläuse, Engel im Bücherregal, eine Kapelle, die ich von meiner Großmutter geerbt habe, winzige kleine Engel von meiner Mutter und eine Gruppe Kurrendesänger von meiner anderen Oma. Alles hat seinen Platz und schafft besinnliche Heimeligkeit in der guten Stube. Sie kennen das sicher – ich vermute, bei Ihnen sieht das nicht anders aus.
Zu diesem wüsten Stil- und Materialmix gehörte eben auch die Weihnachtssau. Früher lag sie auf einer Lautsprecherbox und ließ sich den Bauch kitzeln, wenn die Box bei lauter Musik wummerte. So viel zum Thema stade Zeit.
Mittlerweile ist die Musik ruhiger geworden. Seit wir einige bauchliegende Plüschweihnachtsmänner haben, hat die Weihnachtssau einen anderen Platz, denn die rotmützigen und weißbärtigen Kerle haben die Boxen übernommen. Die Sau saß jetzt an der vorderen Kante unseres Bücherregals und streckt Ringelschwanz und Hintern Ringelnatz und anderen Autoren entgegen.
Und da sitzt sie nun und sitzt.
Zum Dreikönigstag landet traditionell unser Weihnachtsbaum draußen und die Deko wieder in den Kartons. Peinlich genau achten wir darauf, dass am Baum keine Kugel übrig ist, schon gar nicht die mundgeblasenen mit Bauernmotiven verzierten aus dem Tölzer Land, die auch aus dem Fundus meiner Großmutter stammen.
Wenn also keine Kugel mehr übrig ist, alle Engel, Sterne, Nikoläuse, Lichterketten und anderes Dekozeugs auf dem Speicher und damit der ganze Weihnachtszauber durch ist, kann man sich endlich wieder den Alltäglichkeiten widmen.
Wäre da nicht die Weihnachtssau. Kaum nämlich sind alle Kisten auf dem Speicher, was bei uns immer etwas anstrengend ist, fällt uns auf: Ein Dekoteil ist noch übrig. Ein Engel, ein Nikolaus… oder eben die Weihnachtssau.
Triumphierend blickt sie aus dem Bücherregal herab. „Schaut her. Ich bin noch da. Mich habt Ihr übersehen.“
Dazu legt sie ein unsagbar säuisches Grinsen auf. Jetzt heißt es, sofort zuzuschnappen, die Sau nach oben tragen, die Falltreppe zum Speicher öffnen, auf allen Vieren herumkriechen, die richtige Kiste suchen und vielleicht auch finden, die Sau verräumen… nee.
Das mach ich am Wochenende.
Oder auch nicht.
Und so bleibt das Dekoelement den Januar über an seinem Platz. Es sieht Hyazinthen, Narzissen und Primeln auf dem Esstisch kommen und gehen, beobachtet das Auf- und Abhängen der ausgeblasenen und angemalten Ostereier, die den Rest des Jahres auch auf dem Speicher wohnen. Sie zu holen und wieder wegzuräumen wären gleich zwei gute Gelegenheiten, die Sau wegzuschaffen.
Und beileibe nicht die einzigen: Denn wir waren zigmal oben: Skier und Skischuhe runter, Skiausrüstung wieder rauf. Dann die Winterschuhe rauf, Sommerschuhe und Flip-Flops runter. Koffer runter für einen Urlaub, Koffer wieder rauf. Jedes Mal hätte eigentlich jemand an die Sau denken können und sie – wenn man schon mal oben ist – aufräumen können. Aber niemand denkt daran. Dafür grinst sie frech abends zu uns zum Sofa herüber, wenn wir es uns vor dem Fernseher gemütlich machen. Und wieder nehme ich mir vor: Morgen kommst Du nach oben, Mistvieh. Morgen. Nicht jetzt, denn jetzt fängt gleich der Tatort an.
Und dann ist es irgendwann Pfingsten. Der Sommer naht. Die Sonne brennt aufs Hausdach. Keine zehn Pferde bringen mich jetzt auf den Speicher. Da stirbt man ja den sofortigen Hitzetod. Die Sau weiß, dass sich ihre Gnadenfrist wieder mal verlängert hat.
„Morgen, wenn ich die leeren Marmeladengläser vom Speicher hole, kommt das Vieh rauf“, schwöre ich feierlich, nachdem ich im Sommer die Brombeeren geerntet habe. Aber das Vieh bleibt unten und es wird langsam Herbst.
„Lohnt sich das eigentlich noch?“ fragt mich meine Frau als ich ihr einmal mehr von den hehren Absichten erzähle, morgen endlich auf den Dachboden zu steigen.
„Dann ist die Sau weg!“
Mittlerweile haben wir Oktober, das Laub fällt von den Bäumen. „Jetzt holen wir doch eh bald das Adventszeugs wieder runter.“
Dekowillige Leute höhlen um diese Zeit Kürbisse auf, Kinder basteln Kastanienmännchen – wir haben die Weihnachtssau im Regal.
„Jetzt schon?“ fragen Freunde, die zu Besuch sind und das nikolausige Schwein im Regal liegen sehen. Ich antworte wahrheitsgemäß: „Nein! Nicht jetzt schon. Immer noch!“
Dann endlich ist es wieder so weit: Nikoläuse, Lichterketten, Engel und so weiter werden aufgehängt oder aufgestellt. Die Sau hat es überstanden.
Und ich bilde mir ein, dass sie nachts, wenn alles schläft, den Plüschnikoläusen und anderen adventlichen Dekostücken erzählt, was sie das ganze Jahr über gesehen hat. „Ihr habt ja keine Ahnung, was hier abgeht. Ihr da oben in Euren Curverboxen…“
„Doch“, antwortet trotzig der selbstgebastelte Engel meiner Tochter. „Ich stand auch schon mal ein ganzes Jahr hier unten…“
„Ich auch“, klingt es aus der einer anderen Ecke. Das war der Glasstern vor dem Wohnzimmerfenster.
Ich nehme mir vor, beim nächsten Abdekorieren ganz genau nachzuschauen, dass nicht wieder irgendwo irgendetwas zurück bleibt.
Ein frommer Wunsch Eine Sau bleibt immer übrig…
Die Geschichte eröffnete vor einem Jahr die beiden Lesungen „Eine Kugel ist noch übrig“.
Fotos: Claudia Kruppa.
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Stimmt! Ich habe auch ein paar „Ganzjahres-Oster-Plastikeier“ an den Büschen im Garten.