Zeit für die Requiquie

Es wird Zeit, mal wieder von früher sprechen – und von einer Requiquie.
Einer was?

Lassen Sie mich erklären:
Meine Münchner Großmutter hat mir ein ganz besonderes Schmuckstück hinterlassen: Eine Halskette mit einem Anhänger: ein aufklappbares Amulett im rustikalen Design. Nichts, was man tatsächlich gebrauchen könnte, aber in dankbarer Erinnerung behalten kann ich es. Und das mache ich auch.

Amulett mit Kette - aus dem Besitz meiner Großmutter

Etwas ganz Besonderes enthielt dieses silberne Amulett, einen Knochensplitter. Zumindest sagte sie, es sei einer. Und es handle sich um eine Reliquie. So erzählte sie es uns Kindern, und erklärte und, was das ist, ohne sich aber darüber zu äußern, welchem Heiligen das Gebein einst gehört hatte. Oder habe ich es vergessen?
Es war einfach ein Stück Knochen eines Heiligen. Fertig. Für uns reichte die Vorstellung, dass das winzige Überreste eines längst verstobenen Menschen waren, um in uns einen leichtes Gruseln hervorzurufen.

Niemand fragte damals danach, welchem Heiligen denn nun dieses Fitzelchen beigebraunen Knochens gehört haben könnte. Das war auch nicht weiter wichtig, schon damals nicht. Und wer jemals Umberto Ecos Roman Baudolino (Affiliate Link zu Amazon) gelesen hat, hat ohnehin ein sehr ernüchtertes Verhältnis zu Reliquien und deren Verehrung.
Also hat auch nie einer danach gefragt, auch später nicht, als es mich durchaus hätte interessieren können. Da aber trug sie die Kette nicht mehr.
Aus dem Augen aus dem Sinn, womit ich sagen will: Das Heiligenknöchelchen geriet, sobald es samt edler Umverpackung in der Schublade verschwunden war, in Vergessenheit.

Als Kinder aber hatten wir die Großmutter immer, wenn die Kette trug, bedrängt, das Amulett zu öffnen und uns die Reliquie zu zeigen.
Vorsichtig klappte sie den Deckel auf, hielt uns das Amulett samt Knochen unter die Nase, um es danach sofort wieder zu schließen. Berührt haben wir es nie – nicht wollen, nicht dürfen? Wohl eher war es ein Nicht können, denn der Knochen lag hinter einem Stückchen transparentem Kunststoff, das wohl eigentlich dazu gedacht war, Bildchen, die man in das Amulett legte, am Platz zu halten und zu schützen. Es wäre zu umständlich gewesen, den Splitter dort herauszufummeln.
Erst viele Jahre später fiel mir auf, dass meine Oma, die ja nicht mal katholisch war (oder nicht mehr, seit sie nach Dortmund geheiratet hatte), auch sonst keinerlei Hang zum Religiösen hatte. Aber trotzdem trug sie diese Reliquie oft am Hals.

Warum ich das alles erwähne?Requiquie inside - das Amulett

Es ist eben an der Zeit, sich auch der Requiquie zu erinnern:
Ich mag selbst fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als mir die ersten Milchzähne ausfüllen. Von Zahnfeen, wie sie die amerikanische hollywoodeske Kommerz-Folklore mittlerweile auch nach Deutschland geschwappt hat, wussten wir damals noch nichts. Also hob ich den Zahn, den meine Mutter vorsichtig säuberte, in einer alten Streichholzschachtel auf. Mein Bruder machte es genauso.

Zahn weg - Zahnlücke - Requiquie

Dann aber, als der zweite, der dritte Zahn ausfielen, schenkte ich einen davon meiner Großmutter: „Jetzt hast Du noch eine Requiquie!“
Ja, es war falsch ausgesprochen. Meine Oma nahm den Zahn totz seines ganz und gar unheiligen Ursprungs dankbar an, legte ihn zu dem Knöchelchen ins das Amulett und zeigte ihn mir noch Jahre später immer wieder. Nie, ohne es zu versäumen, von der Requiquie zu sprechen.
Es ist einer der typischen Versprecher der Kindheit, die einem das Leben lang begleiten – zumindest solange es noch jemanden gibt, die sich daran erinnern und es einem immer wieder erzählen.

Requiquie – Leute! Ich war nicht mal in der Grundschule! Da kann man so ein schwieriges Wort schon mal falsch aussprechen.

Natürlich ließ ich kaum eine Gelegenheit aus, zu kontrollieren, ob sie den Zahn noch bei sich trug. Ja, das tat sie.
Im Amulett.
Und da ist sie heute noch, die Requiquie. Zusammen mit der Reliquie.
Ich habe es gerade kontrolliert.
Wer braucht da schon Knochen von irgendeinem Heiligen?Reliquie und Requiquie

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1 Antwort

  1. Von so einer tollen Erinnerung würde ich mich niemals trennen. Halte es in Ehren.
    LG Jürgen