Partytime
Partytime ist, wenn man die fünfzig überschritten hat, eher ein entspanntes, geselliges Beisammensein. Man steht rum, giert darauf, dass endlich irgendwo ein Sitzplatz frei wird, weil es in der Hüfte zwickt, nuckelt über Stunden am Bier statt eine Flasche nach der anderen zu leeren, isst reichlich Gutes statt Chips, Erdnüsse und Flips, die nicht mehr gereicht werden, und ergießt sich in Small Talk. Im Hintergrund läuft irgendwelche Musik, diskret und unaufdringlich, so dass man sich nicht kreuz und quer über den Tisch anplärren muss. Tanzen gehört allerdings nicht zu dieser Art Veranstaltungen (was mir sehr genehm ist).
Die Musik ist gefällig, man will ja als Gastgeber niemanden verstören, nicht anecken, vermeidet tretminenverseuchte Playlists mit Schlagern, Hardrock, Heavy Metal oder Klassischem. Bloß nichts, was auf den verbogenen Charakter oder gar geschmackliche Verirrungen der Hausherren schließen könnte…
Und so lief vor Kurzem auf der Geburtstagsfeier einer Freundin, derweil wir an einem Stehtisch plauderten im Hintergrund Musik von Alphaville, Stevie Wonder, Eurththmics, Bee Gees, Abba, a-ha, Michael Jackson und jede Menge anderer Songs, allesamt aus den späten Siebzigern oder frühen Achtzigern. Das lieferte genug Gesprächsstoff für einen ganzen Abend.
Fast jeder Song spült Erinnerungen hoch, längst verloren geglaubte Bilder, Geschichten, Begegnungen, Momentaufnahmen. Sommer, Skiurlaube, Oberstufen- und Uni-Feten (Ja, es hieß damals noch Fete), Autofahrmusik, Zeltlager, Konzerte, Freibad, Discman… vieles, was ich längst vergessen, vergraben, versenkt hatte. So manches könnte gut und gerne im hintersten Winkel verborgen bleiben, jetzt aber ist es wieder da, wird aber schamvoll verschwiegen. Nicht jeder muss alles wissen – nicht vom Bowie-Konzert in Berlin, nicht von Disco-Besuchen im Ruhrgebiet und schon gar nicht von… lassen wir das.
Also reden wir fast nur von der Musik. Man(n) gefällt sich darin, anhand der ersten Takte den Song und seine Interpreten zu nennen, wer weiß es, wer erkennt es, wer erinnert sich? Ein heiteres Partyspiel, wenn auch nicht generationenübergreifend.
Fade to Grey – schon klar, aber von wem? Visage. Richtig, so hießen die. Down under – von Men without hats? Nein, das war Safety Dance. Men at work. Ok, knapp daneben.
Bronski Beat kennt keiner mehr, die markante Stimme von Jimmy Somerville hingegen erkennen alle. Ich punkte mit der eindeutigen Zuordnung des Songs Smalltown Boy versteige mich darauf, dass die Schwulen und Lesben an der RuhrUni die besten Feten organisiert haben, und da lief das rauf und runter (Zwischenruf: „Hört! Hört!“), derweil ich in genau dieser Zeit mit Pauken und Trompeten im ersten Anlauf durch die Abiturergänzungsprüfung Graecum rasselte.
Ich weiß auch besser, dass Alphaville aus Münster und nicht aus Bochum kam, wie einer sich zu erinnern meint. „Also sorry, ich habe in Bochum studiert, ich muss das wissen!“
Aber niemand glaubt mir. Wie schon zuvor bei Bronski Beat. Alle zücken die Handys. Google muss ran, Recht haben und Recht bekommen liegen nur ein paar Klicks voneinander entfernt.
Eye of the Tiger ist natürlich aus Rocky III und nicht aus Rocky I, allerdings auch nicht aus Rocky IV wie ich dachte und wurde 1983 für den Oskar als bester Filmsong nominiert. Um meine Ehre zu retten checke ich den Soundtrack von Rocky IV: Ha, da ist er trotzdem drauf. Wusste ich doch. Die CD steht immerhin daheim im Regal.
Aber auch das ist ein Irrtum, es ist eine Song-Compilation aus mehreren Rocky-Filmen. Wie man sich irren kann – im Alter lässt das Gedächtnis eben nach. Schnell das Thema wechseln.
Wir warten auf Foreigner, Marillion und den unvermeidlichen Final Countdown. „Europe! Die Gruppe hieß Europe“.
Ja. Saga gab es auch – und Toto. Habe ich öfter verwechselt. Asche auf mein Haupt. Wo bleibt The Police?
Wir wetten, was als Nächstes kommt: Supertramp? Whitney Huston? Depeche Mode? Tears for Fears? Oder Elton John? Bitte nicht Phil Collins.
Einer wirft The Cure in die Runde, doch wir sind uns einig: Das ist schon nicht mehr gefällig genug, nicht mehr Mainstream – zu speziell. The Cure konnte schon damals Parties sprengen – oder selbige zum Überkochen bringen. In meinem Kopfkino läuft Love Cats, spüre ich da nicht ein merkwürdiges Zucken in den Gelenken? So wie damals?
Statt dessen läuft Take on Me . A-ha mag auch niemand. „Aber das Video, das war genial. State of the art. Ein Meilenstein, Jahre seiner Zeit voraus. Stilbildend, hat Maßstäbe gesetzt. Immerhin“
Der Abend verfliegt im Nu, von wem war noch mal Send me an Angel?
Auf dem Display der Stereoanlage zeigt die Laufschrift immer nur „iPhone von L.“ an, aber nicht die laufenden Titel. Spicken ist also nicht…
Aber trotzdem ist das interessant, denn L. ist die Tochter des Hauses, im vollpubertätigen Alter und daher weit entfernt, profunde, authentische Kenntnisse der 80er Musik zu besitzen.
Wiederholt bringt die Playlist Abba zu Gehör.
„Ist das überhaupt 80er?“
„So gerade noch. Genau 10 Jahre gab es die – gefühlt allerdings viel länger.
„Ich weiß: „1974 bis 1984“.
Später belehrt mich Wikipedia, dass es 1972 bis 1982 war, 1974 gewannen sie den European Song Contest, der damals noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß, aber egal.
„Da ist jedenfalls in der musikalischen Früherziehung Eurer Tochter ein wenig was schief gelaufen!“ mahne ich den Gastgeber zu dringend notwendigen Korrekturen an, trotz der Kinoerfolge von Mamma Mia ist Abba nicht der richtige Umgang für eine Vierzehnjährige.
Doch dann kommt Unglaubliches zur Sprache.
Das, was wir hören, ist nämlich mitnichten die übliche Playlist der Tochter. Ok, das hätte ich mir denken können und später am Abend schwenkt sie dann auf „ihre Musik“, ein deutliches Zeichen, dass es Zeit wird zu gehen. wie meinte Roger Murthaugh so schön? „I am to old for that shit!“ Aber dafür ist L… auch noch zu jung. Das war nämlich auch 80er.
L. hat einfach bei Spotify nach „Alte Leute Musik“ gesucht und nudelt nun die gleichnamige Playlist herunter.
Alte Leute Musik (Plalist unterm Bild) – Treffer! Versenkt!
Getreu der Devise (auch nicht gerade neu), keinem über 30 zu trauen, ist eben auch jeder über 30 alt. Zumindest muss das Niels Fce, der Spotifyer, der die Play-List erstellt hat, wohl so annehmen. Denn wenn ich eine Musikliste für alte Leute zusammenstellen würde, würde die wohl ganz anders aussehen. Und vermutlich den wirklich alten Leuten mehr zusagen als dieses neumodische Zeugs wie auf Niels‘ Liste. Ich denke an Peter Alexander, Marika Röck, Ilse Werner, Johannes Heesters, Heintje, Udo Jürgens, Harald Juhnke, Lale Andersen. Das ist echt alt. Aber die Arbeit kann ich mir sparen. Denn niemand, der alt genug ist, dass er so etwas mag, hat einen Spotify-Account. Niemand.
Leute, ich brauch noch ein Bier.
Sofort.
Und dann: Alter Mann am Arsch!
It’s Partytime.
Vielen Dank fürs Lesen.
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Szenenbild aus R.E.D. – (c):LionsGate
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