Blogparade Friedhofsspaziergänge – Ein Gang über den Friedhof in unserem Dorf
Zu einer ganz besonderen Aktion hat Petra und Annegrets Totenhemd-Blog eingeladen: „Mache einen Spaziergang über einen Friedhof. Fotografiere etwas, das Dir auffällt/dich irritiert/anspricht/ berührt – und schreibe einen kleinen Text dazu“.
Das klang spannend – eine reizvolle Aufgabe, denn auf Friedhöfe gehe ich immer wieder gerne, egal ob im heimischen Dorf, in der Kreisstadt oder in Städten, die wir besuchen. Gelegentlich habe ich auch darüber gebloggt – zum Beispiel Greyfriars Kirkyard in Eddinburgh – der nicht nur wegen seiner rührenden Hundegeschichte bekannt ist sondern auch als Friedhof, auf dem Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling Namen für ihre Romane gesammelt hat. Seitdem pilgern Fans zu Hunderten zu den alten Gräbern…
Zu den berühmtesten Friedhöfen gehört sicher auch der Wiener Zentralfriedhof. 2016 war dort ein bonfortionöses Mausoleum zu erwerben, da kann man schon schwach werden…
Als ich mich im Oktober zu der Aktion Friedhofsspaziergang angemeldet habe und für diesen Termin habe eintragen lassen, war mir sofort klar, dass ich keinen berühmten Friedhof zum Thema machen werde. Ich wollte mich von dem Friedhof in unserem Dorf inspirieren lassen.
Wohlan:
An einem fast spätsommerlich warmen Sonntag Ende Oktober breche ich zur Mittagszeit auf. Eine Runde über den Friedhof. Was werde ich finden?
Jedes Dorf hier hat seinen Friedhof – so auch unseres, ein 1.500 Seelen-Ort östlich von München im Erdinger Land. Ganz traditionell geht es auf dem Gräberfeld zu: In der Mitte steht die katholische Kirche St. Martin, die Gräber (zumindest die älteren) sind in preußischer Ordnung in Reih und Glied und allesamt nach Osten ausgerichtet, schwere Platten, mächtige Familiengrabsteine, Gipsengelchen, ewige Lichter, viel Buchs, Heidekraut, Dickmännchen, Wollziest, Weihwasserbecken und -schwengel. Ein typischer, katholischer Dorffriedhof in Bayern.
Allerheiligen rückt näher (geschrieben habe ich den Text am Sonntag zuvor), die meisten Gräber sind bereits proper herausgeputzt, andere werden gerade hergerichtet Sonntag hin oder her. Friedhofsbesucher schleppen mit Kohlenstaub geschwärzte Graberde in Säcken herbei, sie holen Gartenwerkzeuge und noch mehr Heidekraut aus den Kofferräumen ihrer Autos. Andere wienern die schwarzen Steine auf Hochglanz, dass man sich darin spiegeln kann.
Es ist nicht leicht, Fotos zu machen, ohne dabei argwöhnisch beobachtet zu werden. Das aber möchte ich auf gar keinen Fall. Der Kies auf den Wegen knirscht unter jedem Schritt. Unbemerkt kann ich mich kaum fortbewegen. Immer wieder schaut wer auf: Wer kommt da? Wer geht dort? Wer schleicht hier herum? Wer ist das? Was macht der hier?
Blicke mustern mich. Den haben wir hier ja noch nie gesehen. Bestimmt ein Zugroasta*. Was will der hier?
Man grüßt sich kurz, ich gehe weiter. Steine liegen statt Blumen auf einem Grab. Das ist ungewöhnlich. Diesen Brauch kenne ich sonst nur von jüdischen Friedhöfen, Steine auf Gräbern habe ich in Jerusalem gesehen, in Prag und anderswo. Ich weiß um ihre Bedeutung. Auf Grabplatten mit Kreuz und ewigem Licht aber wirken sie etwas deplatziert. Warum eigentlich?
Mit lautem Rumms fällt neben dem Friedhof die Tür der Wirtschaft ins Schloss. Danach klappert eine Autotür. Ich höre den Motor des Wagens starten. Irgendwer hat wohl wieder beim Italiener Pizza to go abgeholt. Sonntags bleibt die Küche kalt… War da nicht was?
Eine Bank lädt zum Verweilen ein, aber es ist fast schon zu warm, um in der Sonne zu sitzen.
Torjubel dringt über die Felder, die Mannschaft des örtlichen Fußballvereins hat ein Tor geschossen und wird begeistert gefeiert. Ich stehe vor einem Grab und denke, ob wohl Ludwig Soller auch so begeistert bejubelt wurde, als er 1914 in den Krieg zog? Hätte er lieber Fußball spielen wollen? Vielleicht wäre das klüger gewesen, als sein junges Leben auf dem Schlachtfeld vor Arras dem Vaterland zu opfern.
Heldentod – wenn ich das schon lese… Ich denke, weitaus weniger vaterländisches Heldentum und mehr Fußballspiele stattdessen hätten der Welt viel Leid ersparen können.
Was „irritiert“ sind die Namen auf den Grabsteinen, als ich meine Runde über den Friedhof fortsetze. Denn die meisten sind vertraut. Es ist quasi das Who is Who der Dorfgemeinschaft. Jede alteingesessene Familie hat hier ein oder mehrere Gräber.
Auch wenn ich hier nicht geboren und groß geworden bin – nach 20 Jahren im Dorf kennt man viele der Namen, die auf den Grabsteinen stehen: Es ist der Bruder eines Freundes, der Lebensgefährte einer Bekannten, das Kind einer anderen, die Mutter einer Freundin. Bei der einen oder anderen Beerdigung haben wir mit am Grab gestanden.
Dieser hier, der einst gegenüber wohnte, hat damals den Kampf gegen den Krebs aufgegeben und sich selbst getötet. Davon gibt es mehrere auf diesem Gelände. Einer hat sich in einem depressiven Schub im Wald aufgehängt, ein anderer hat sich eine Kugel durch den Kopf geschossen. Einfach so und aus heiterem Himmel.
Jener hier hat den Kampf gegen den Krankheit aufgenommen, ihn aber verloren. Sein Grab ist noch ganz frisch. Ich kannte ihn, seine Töchter sind nur wenig jünger als die meinen.
Ich sehe das Grab eines Kindes, das kaum sechs Jahre alt geworden ist und das einer Mutter, die von einem Autofahrer von ihrem Fahrrad heruntergeschleudert wurde und noch am Unfallort starb. Da war das jüngste Kind noch nicht einmal in der Schule.
Unter einem Baum zwischen Herbstlaub und Efeu steht eine kleine Gipsskulptur. „In stillem Angedenken“. Irgendwer muss sich irgendwann ihrer überdrüssig gefühlt und sie vom Grab entfernt haben, reime ich mir zusammen und phantasiere, dass er es wohl nicht übers Herz gebracht hat, sie einfach in den Müll zu schmeißen. Also hat er ihr einen neuen Platz gesucht und auch einen gefunden. Anders kann es kaum gewesen sein.
Ein warmer Wind lässt die Schleifen an den Grabkreuzen hin und her schwingen. Ich möchte ein Foto machen. Schritte im Kies sind zu hören, ich lasse das Handy in der Tasche verschwinden. Wie gesagt: Ich möchte nicht beim Fotografieren „erwischt“ werden.
Ich fühle mich mit einem Mal wieder fremd. Fremd, weil ich hier irgendwie nicht hingehöre – ich störe mit meiner gefühlt aufdringlichen Neugier und Motivsuche. Ich habe kein Grab hier, das ich pflegen müsste, keine Angehörigen, die es auf diesem Friedhof zu betrauern gibt. Eigentlich habe ich hier gar nichts zu suchen. Ich bin und bleibe eben doch nur der Zugroaste…
*Zugroasta: Neuzugezogener, Neubürger, auch nach über 20 Jahren noch ein Fremdling in der dörflichen Gemeinschaft
Vielen Dank fürs Lesen.
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Friedhöfe besuche ich immer wieder, es sind für mich spannende Orte . Vielleicht aus einer etwas anderen Sicht, denn diese stillen Orte stecken voller Leben. Wenn es dann noch alte Baumbestände gibt , sind sie für mich ideale Orte der Vogel und Tierbeobachtung. Der normale Friedhofsbesucher bekommt es kaum mit ,was sich am Ort seiner Hinterbliebenen so alles tummelt . Viele verschiedene Vogelarten, Hasen, Fuchs ,Reh und auch das Wildschwein haben hier ihr Zuhause.
Danke, lieber Lutz, für deinen Friedhofsspaziergang im Dorf, „auf dem du nichts zu suchen hast“ ;-). Wir freuen uns, dass Du uns dort hineinführst hast. Der „entsorgte“ Engel im Laub gefällt mir besonders. Hat einen neuen Platz gefunden.
Hab einen schönen Tag. Herzlich. Petra
Hi Lutz, ein sehr schöner Beitrag zu diesem Thema, danke dir und viele Grüße aus dem Ruhrgebiet, Annette
Lieber Lutz, dein Spaziergang und dein genaues Hinschauen haben mich sehr bewegt. Zwischen zugeroast und mittendrin, zwischen Trauerflor und Wirtschaft, zwischen Gartenerde und Erinnerungssteinen ist da so viel Leben. Danke fürs Mitschreiben in unserer Blog-Aktion!
Viele Grüße
Annegret