„Draußen vor der Tür“ – warum die zweite Wahl manchmal die Bessere ist
Vor einigen Wochen schrieb mich Michael auf Twitter an, er habe für die Aktion #JedeWocheEinFoto einen Themenvorschlag: Draußen. Das wollte er durchaus mehrdeutig verstanden wissen: „Knüpft ein bisschen an SchönesGegenDoofes an… ist aber ein bisschen doppeldeutiger 1. raus wollen, nach draußen 2. draußen sein, ausgeschlossen sein, aus der Übung zu sein Es kommt auf den Standpunkt an, auf die Richtung.“
Damit rannte er, ohne es zu wissen, eine offene Tür ein. Denn ich habe für den unwahrscheinlichen Fall, dass mir die Themen einmal ausgehen sollte, eine kleine Liste im Petto. Bekannte Buch-, Song- und Filmtitel, Werbezitate, Liedzeilen etc. – alles griffige und bekannteFormulierungen, die sich lohnen, vollkommen frei von ihrem ursprünglichen Kontext neu interpretiert zu werden. Auch auf der Liste war Draußen vor der Tür in Anlehnung und Erinnerung an Wolfgang Borcherts Theaterstück, das heute wohl nicht mehr so bekannt und Schullektüre ist wie einstweilen, als ich damit in Kontakt kam. Der Inhalt: Weltkriegsveteran und Heimkehrer Beckmann findet keinen Anschluss mehr an die Gesellschaft der späten 40er Jahre, eine Gesellschaft, die damit beschäftigt ist, sich selbst neu zu sortieren. Da bleibt so einer eben draußen.
Ich schlug Michael vor, sein Thema etwas anders zu formulieren, eben mit dem Buchtitel, wir waren uns einig, Ende Februar war es dann soweit: Draußen vor der Tür. Die Ambivalenz dieses Mottos wurde auch in den veröffentlichten Bildern gelegentlich aufgegriffen, es hätte ruhig mehr sein können, aber natürlich hat jede/r das Recht, das Thema so zu interpretieren, wie sie/er es will. Also gab es viele „Draußen“-Fotos, das frühlinghafte Wetter lud ja geradezu ein. Absolut ok.
Meinen eigenem Anspruch wurde ich selbst nicht gerecht, als ich am Dienstag der betreffenden Woche mein Bild hochlud. Dieses:
Natürlich entsprach es dem Thema. Noch mehr Draußen geht kaum. So gesehen.
Aber ich wollte mich eigentlich von Anfang an dem anderen Aspekt, nämlich dem des Buchtitels widmen. Trotzdem ging der Mond ins Netz.
Warum?
Wollte ich mir Likes sichern? Anfang der Woche findet die Aktion viel mehr Aufmerksamkeit als mittendrin. Und ich hatte noch kein anderes Bild.
Wollte ich eine Idee als Erster besetzen? Mondfotos gab es in dieser Zeit endlos viele in den sozialen Medien, mich nicht ausgenommen. Bei dieser Idee hätte mir vielleicht einer zuvorkommen können. Wollte ich das vermeiden?
Ging es mir eher darum, eine möglichst originelle, einmalige Idee zu liefern oder ein gutes Foto?
Es war nicht das erste Mal, dass ich viel zu schnell ein Bild bei der Hand hatte und ein paar Tage später ein deutlich besseres Motiv vor der Kamera. Aber es ist das erste Mal, dass ich den ersten Entwurf gleich hochgeladen habe.
Bisher konnte ich mich bremsen. So war es zum Beispiel auch bei einem Thema im November 2020: Einsam – in der unheimlichen Variante.
Die erste, spontane Idee abends nach der Arbeit auf dem Weg zum Auto: Der Schatten eines Mannes auf dem nassen Laub. Ein schnelles Foto entstand:
Nein.
Mir missfielen Bild und Idee. Das erste auf den ersten, das zweite auf den zweiten Blick: Zu klischeehaft, hundertmal schon gesehen in guten und noch öfter in schlechten Thrillern. Das ist ein durchschaubares, reichlich abgenutztes Filmmotiv, das von vorneherein auf Manipulation der Betrachter setzt.
Bei einem Waldspaziergang hoffte ich auf bessere Ideen. Zunächst war es eine Joggerin, die einen einsamen Weg entlang lief, die ich als Motiv in Erwägung zog. Aber ist das besser?
Ich denke nicht. Im Gegenteil. Es ist noch klischeebeladener, solche Szenen kennt man als Dutzendware aus Filmen. Und jeder Zuschauer weiß, was im Film gleich passieren wird.
Als Nebel aufzog, versuchte ich es erst mit einem einsamen Baum auf einer Wiese, dann mit einer ganzen Schonung.
Aber so sehr ich mich bemühte: Ich fand nichts Unheimliches daran und noch weniger vermittele es Einsamkeit. Wald und Natur sind nicht unheimlich, es sei denn in unserer eigenen Phantasie. Und Einsamkeit ist nun mal ein menschliches Empfinden. Am Ende entschied ich mich für dieses Bild, das einen Mann zeigt.
Persönlich finde ich auch daran nichts Unheimliches – insbesondere deshalb nicht, weil ich den Menschen kenne, einen sehr netten, sehr zurückhaltenden Mann aus der Nachbarschaft bei einem seiner vielen Spaziergänge. Aber das weiß nur ich, nicht der Betrachter des Bildes und so hoffe ich, nicht zuletzt durch die Farbmanipulation doch ein wenig das Unheimliche daran im Kopf der Betrachter wecken zu können, auch wenn hier wieder nur Klischees mit Hilfe bekannter Filmbilder aufgerufen werden. Letztlich ein Taschenspielertrick – zugegeben.
Zurück zum Mondbild.
Ich war und blieb unzufrieden mit mir selbst.
Menschen, die „draußen vor der Tür“ sind, wollte ich zeigen. Das ist aber gar nicht so leicht. Sozial ausgegrenzte Leute zu finden ist nicht weiter schwierig, sie aber zu fotografieren schon. Datenschutz- und Persönlichkeitsrechte spielen hier eine Rolle, aber auch Diskretion – das ständige Dilemma der Streetfotografy, vor allem, wenn die Menschen bildbestimmend und unerkannt bleiben sollen und am besten gar nicht erst merken, dass sie fotografiert wurden.
Am Freitag der Themenwoche traf ich auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums samt Discounter, Drogeriemarkt, Supermarkt, Döner-, Pizza- und Asiafoodstand einen Biss-Verkäufer. Die Münchner Straßenzeitung kaufe ich oft, wovon hier schon zu lesen war. Dass sie mittlerweile auch bei uns draußen auf den Land auf den Parkplätzen der größeren Einkaufscenter angeboten wird, weiß ich erst jetzt.
Warum nicht ihn als Draußen vor der Tür Motiv, kommt mir die Überlegung. Wie der Verkäufer zwischen all den schweren SUVs auf und ab geht, immer wieder die Tür des Supermarkts im Blick, ob da jemand rausschlüpft, der ihm ein Exemplar abkauft, könnte es ein gutes Motiv abgeben. Die Kamera habe ich im Auto, sie ist schnell geholt. Aber es ist gar nicht so einfach, unbemerkt mit hoher Brennweite ein Bild zu machen, ohne dass der Mann oder sonst jemand auf dem Parkplatz es bemerkt. Es ist eine kleine Geduldsprobe. Immerhin kommt es ja nicht alle Tage vor, dass da einer mit Kamera und Tele über den Parkplatz schleicht und ganz furchtbar bemüht ist, nicht aufzufallen. Schließlich gelingen mir doch ein paar Fotos aus der Ferne. Einige entstehen mit der Kamera vor dem Bauch ohne Blick durch Sucher oder Display aufs Geratewohl. Wer nämlich die Kamera nicht vors Gesicht hält, ist zunächst unverdächtig. Das weiß ich, seit ich vor vielen Jahren während der Intifada im arabischen Teil von Jerusalem Soldaten bei ihrem brachialen Aufmarsch, Uniformierte in der damaligen DDR oder Polizisten bei einer großen Demo in Berlin verbotenerweise fotografiert habe.
Auch wenn dieses Bild noch immer nicht ganz so ist, wie ich es wollte, geht es zumindest in die richtige Richtung: Ein Mensch draußen vor der Tür – im doppelten Sinn. Gesellschaftlich befindet er sich zumindest am Rande und im wörtlichen Sinn steht er vor der Tür eines Supermarktes. Mit der Rükansicht bin ich zufrieden, das wahrt seine Immunität. Gern hätte ich seinen Hackenporsche mit der Zeitungsauslage andersherum auf dem Bild gehabt, liebend gern auch vorne links im Anschnitt einen fetten, schweren Luxuswagen. Aber man kann nicht alles haben.
Natürlich erhielt das Foto, das ich bei Twitter einstellte, nur einen Bruchteil der Herzen, die der Mond drei Tage zuvor eingefahren hatte. Gram bin ich deshalb nicht.
Denn ich habe etwas daraus gelernt:
An einer (Foto)-Idee festhalten und noch mehr Geduld beim Warten auf Gelegenheit und Inspiration aufbringen.
Bei solchen Projekten muss ich nicht unbedingt (zeitlich) vorne mitspielen müssen. Es ist egal, ob ein Bild mehr oder weniger Herzchen einheimst, darum geht es nicht. Es geht um die Zufriedenheit mit dem Motiv und den eigenen Anspruch.
Vielen Dank fürs Lesen.
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Du sprichst hier ein wichtiges Thema an, das ich auch immer wieder überdenke und Zurzeit mit einer Blogfreundin diskutiere: geht es um viele Likes, wohlwollende Kommentare oder um ein Thema, dem ich folge, dem ich Worte und Bilder auf meine Art verleihe? Das Zweite ist die Motivation mich überhaupt mit einem Thema zu befassen, nach Bildern und Worten dazu zu suchen, Ersteres freut mich immer! Aber ich muss auch immer wieder die Erfahrung machen, dass manches, das mir besonders am Herzen lag oder liegt floppt, während anderes, das ich eher als banal empfinde boomt. Damit lebe ich nun schon eine lange Zeit und es ist gut so wie es ist. Natürlich habe ich meine Ideen für Ursache und Wirkung dazu, die aber jetzt zu viel für diesen Kommentar wären.
Zum Thema „Draußen vor der Tür“ gestehe ich, dass ich von der Umsetzung etwas enttäuscht gewesen bin. Ich hatte mich ans Buch und den Plot angelehnt, das erwarte ich nicht, aber ich hatte dann eben doch erwartet, dass sich mehr Teilnehmer*innen den sogenannten „Randexistenzen“ zugewendet hätten. Nun, es ist wie es ist, auch hier und auch mit meinen Erwartungen.
Mir macht das Fotoprojekt Freude, ich finde immer wieder Perlen und die machen so manches andere wett.
Herzliche Grüße
Ulli