Does anybody here remember Vera Lynn?
Does anybody here remember Vera Lynn?
Remember how she said that
We would meet again
Some sunny day?
Vera, Vera
What has become of you
Does anybody else in here
Feel the way I do?
Aus: Pink Floyd „The Wall“
Gibt es irgendein Album, das ich öfter gehört habe als The Wall?
Ich denke nicht. Es wüsste kaum ein anderes, dessen Texte ich ausnahmslos auswendig beim Abhören mitsingen oder sogar frei vor mich hinträllern könnte (was ein gnädiger Gott zumindest in der Öffentlichkeit bisher verhindert und mir damit viele Peinlichkeiten erspart hat).
1979 kam The Wall auf den Markt und drang mit einer Intensität in den Mainstream vor, die für Pink Floyd absolut ungewöhnlich war. Another brick in the Wall – part two wurde im Radio rauf und runter gespielt, entwickelte sich zum Dauerbrenner in der von uns so geschätzten WDR Schlagerrallye, die samstags abends im Radio lief und mit Schlager gar nichts zu tun hatte. Wäre nicht das unverrückbare , alles dominierende Don’t bring me down von Electric Light Orchestra , Pink Floyd hätte es gut auf den ersten Platz schaffen können. In den Jahrescharts 1980 immerhin schlossen sie auf Platz 2 auf.
We don’t need no education prangte eines Tages in fetter Kreideschrift quer über der Tafel unseres Klassenraums. Irgendwer hatte es in der Pause dorthin geschrieben. Es war als Provokation für den gleich eintretenden Vertretungslehrer gedacht, verfehlte aber seine Wirkung. Der nämlich erklärte uns, das wäre ja eine doppelte Verneinung, also eine Bejahung, und genau darum würden wir ja damit zum Ausdruck bringen, dass wir doch eine Erziehung bräuchten. Der Mann hatte einfach gar keine Ahnung von der englischen Sprache. Wir wussten es damals allerdings auch nicht besser – und so war das Zitat verpufft.
Besser dran waren wir mir dem Englischlehrer, der sich auf The Wall einließ. Nach Pfingsten waren wir mit dem Stoff durch, einer aus der Klasse (war es der schon lange verstorbene Frank Heine?) schlug vor, dass wir uns mit Pink Floyd beschäftigen könnten. Die Stunde darauf brachte der Lehrer Textblätter von Comfortably Numb mit, die er über Matritze dupliziert hatte. Wir hörten den Song und es ging ans Übersetzen. Zum Analysieren kamen wir nicht wirklich, geschweige denn zur Sinnerfassung. The Wall ist viel zu komplex, als das man einen willkürlich herausgebrochenen Songtext nur halbwegs ohne den Gesamtkontext erfassen könnte.
Das geschah erst einige Jahre später, als ich Satz für Satz – Zeile für Zeile übersetzte. Mittlerweile hatte ich The Wall live in Dortmund gesehen (Block 45, Rang 2, Sitz 5) und war noch mehr beeindruckt.
Ich begann, mich mehr mit den Inhalten zu beschäftigen, ich wollte wissen, was es mit den riesigen aufgeblasenen Figuren zu tun hatte, mit dem Sturzkampfbomber-Modell, das quer durch die Halle donnerte, mit dem Zertrümmern des Appartements, mit der Mauer an sich und überhaupt.
Und da stieß ich wieder auf den Namen Vera Lynn. Lange hatte ich gedacht, das sei nur ein Phantasiename, eine literarische Figur, sozusagen eine Erfindung von Roger Waters. Eines besseren belehrt suchte ich nach Informationen in der Vor-Google-Zeit, erfuhr, ich weiß nicht mehr von wem, dass sie eine Schlagersängerin in Großbritannien in den 40ern gewesen war, die heute kaum noch einer kannte.
Erste Überraschung: Die Frau gab es wirklich. Das irritierte mich. Aber wenn schon Roger Waters fragte (und irgendwie interpretierte ich es so, dass dem nicht so sei), ob sich jemand an Vera Lynn erinnerte, passte das haargenau zu dem Song Vera Lynn auf The Wall. Ich beließ es dabei, mehr wollte ich nicht wissen. Eine kolossale Fehleinschätzung, wie ich später erfuhr. Vielleicht war das Wort Schlager genau das, was mich damals abschreckte, tiefer zu graben. Vielleicht war es auch nicht so wichtig.
Jahre später dann die zweite Überraschung: Vera Lynn war in Großbritannien eine Legende, in den Musikläden Londons, in denen ich oft stöberte, wenn ich dort war, standen Berge von Alben von ihr. Nicht nur eine längst in Vergessenheit geratene Schlagersängerin – im Gegenteil: Eine nationale Ikone.
Ihre Durchhaltesongs während des Zweiten Weltkriegs sind allgemeines Kulturgut. We will meet again kennt scheinbar jeder – es ist so populär, dass es nicht nur Abba 1974 in Hasta Mañana zitierte, Pink Floyd ihm ein Denkmal setze, sondern dass noch 2020 Queen Elizabeth II im April in ihrer Rede zu Covid-19 darauf anspielte: “We should take comfort that while we may have more still to endure, better days will return: we will be with our friends again; we will be with our families again; we will meet again” und es jeder verstand. Durchhalten. Durchhalten.
Es fehlte wohl nur das „…some sunny day“. Aber das wäre wohl zu pathetisch gewesen.
Vera Lynn ist vor einigen Tagen am 18. Juni im Alter von 103 Jahren gestorben.
Und noch immer irritiert mich das. Wie kann jemand real sterben, der nie existierte – jedenfalls nicht in meinem damaligen Horizont? Denn wie gesagt: Ich dachte ja einige Jahre, es hätte sie nie wirklich gegeben.
Mittlerweile kenne ich natürlich nur das legendäre We will meet again, das im Nachkriegsdeutschland wenig bekannt war, aber in England und nicht nur dort lautstark von Jedermann mitgesungen werden kann und wohl auch wird. Und nicht nur in England, wie mir eine Freundin schreibt: „Ich habe We‘ll meet again mit meinem holländischen Chor in einem holländischen Altenheim gesungen. Die Leute gingen steil und haben alle lauthals mitgesungen. Das war für mich als deutschem ‚Maulwurf‘ sehr bemerkenswert.“
Aber gut möglich, dass ich ohne Pink Floyd von ihr nie etwas erfahren hätte.
Vera Lynn is dead. Vera who?
Nun, es kam anders. Ich mag die Musik nicht besonders, zugeben. Anders als in UK ist das für mich eine Frage des Geschmacks und nicht der nationalen Ehre, mit Vera Lynn wenig anfangen zu können. Auch nicht mit ihren Versionen von Lili Marleen , Strangers in the Night, Somewhere over the Rainbow, Wonderful World, As time goes by. Das gibt es alles besser, auch besser gecovert. Trotzdem hat mich die Todesnachricht aufhorchen und dann zu Pink Floyd, zu The Wall und in viele Erinnerungen gelockt – und letztlich zu diesem Blogpost veranlasst.
What else?
Da ist da noch Vera Lynns Interpretation von Edward Elgars Hymne Land of Hope and Glory:
…verschlagert für die Moral in good old England, ein Seelenstreichler für jedes britisch-patriotische Gemüt. Welcher Brite möchte da nicht aufspringen und den Union Jack schwenken?
Ich allerdings halte mich lieber an Pink Floyd, das streichelt zwar nicht unbedingt mein Gemüt, aber es ist soviel passender. Denn The Wall wie auch das nachfolgende Album The final Cut (ich gehöre zu der Minderheit, die es wirklich genial finden) sind bestens geeignet, einem jegliches patriotisch-heroische Gefühl und das Bedürfnis fürs Vaterland in irgendeinen Krieg zu ziehen, auszutreiben.
Als ob ich je eines gehabt hätte.
PS: DSGVO-Hinweis: Durch das Klicken auf die Video-Vorschau-Bilder gelangen Sie direkt zu Youtube.
Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann
Subscribe to get the latest posts sent to your email.
Danke für die Recherche – den wunderbaren Floyd-Song habe ich immer noch sehr intensiv im Ohr. :-)
Und ich stimme Dir zu – The Final Cut ist wirklich genial – die LP habe ich damals 1984 für viiiel Geld in Budapest erstanden ;-)