Sechs Bahnhöfe auf einen Streich
2001, als zwar Mobiltelefone schon weit verbreitet, aber an Smartphones noch nicht zu denken war, veröffentlichte der englische Schriftsteller Keith Lowe seinen wunderbaren Roman Tunnel Vision, der zwei Jahre später unter dem deutschen Titel Auf ganzer Linie auch hierzulande erschien.
Lowe erzählt die darin von einer geradezu grotesk-absurden Wette eines jungen Briten, innerhalb von nur einem Betriebstag alle damals 267 Stationen der Londoner U-Bahn abzufahren. Sidekick: Das Ganze geschieht am Tag vor seiner Hochzeit. Und auf der Tour muss er schnitzeljagdmäßig seinen Pass, die Flugtickets für die Hochzeitsreise und allerlei mehr zurückerobern. Gelingt ihm das nicht, dann hat er ein Riesenproblem mit seiner Freundin Rachel. Wenn das mal keine Wette ist…
Gelegentlich, wenn mich der Hafer sticht, starre ich auf den Plan des Münchner Verkehrsverbundes und sinniere, ob es möglich wäre, alle S- und U-Bahnhöfe an einem Tag abzuklappern. Ich überlege, wo man am sinnvollsten startet, wo man mit dem Bus Querverbindungen zwischen einzelnen Strängen nutzt, um nicht immer wieder zur Stammstrecke zurückzukehren, was man alles mitnehmen muss (Verpflegung, Handy, Ersatzakkus…) und bleibe immer wieder an der Frage hängen: Ist das überhaupt machbar?
Probier’s aus.
Was ich nie gemacht habe und wohl auch nicht machen werde.
Aber ich liebe solche verrückte Ideen, Fragen nach der Machbarkeit, die zu nichts führen als zu der Erkenntnis, dass es geht, oder eben nicht. Darum habe ich 2015 eine lange Liste an Seen in und um München erstellt, in denen ich in diesem Sommer schwimmen wollte. Eigentlich auch ein Schmarrn.
Ich habe große Sympathie für Menschen, die sich monatelang in solche Projekte hineingraben können, eine Wissenschaft daraus machen, von nichts anderem mehr reden und trotzdem bei den meisten Zuhörern völlige Unverständnis ernten. Kaum einer kann nachvollziehen, wozu das gut sein soll. Ich schon.
Als ich vor einigen Tagen von einem solchen Projekt lese, dessen Realisierung mir ebenso schwierig vorkommt, wie ich auch nur einen sehr begrenzten Nutzwert darin sehe, bin ich sofort Feuer und Flamme. Iron-Blogger-Kollegin Esther Debus-Gregor hat in der vergangenen Woche einen Beitrag und ein Foto von einem Provinzbahnhof veröffentlicht und mich damit auf die Spur von Gaby Becker gebracht. Die wiederum sucht seit 2015 für ein OpenData-Projekt Fotos von Bahnhöfen – und zwar von allen 5.652 deutschen. Die Bilder sammelt sie mit ein paar Mitstreiterinnen auf der Seite Deutschlands Bahnhöfe. 39% der eingetragenen Bahnhöfe sind bereits mit Bild hinterlegt.
Wozu das gut sein soll?
Keine Ahnung.
Aber das klingt klasse und ist dringend unterstützenswürdig. Ich bin komplett begeistert. Was für eine geniale Idee, was für ein schier unlösbares Problem, von überall her Bilder zu bekommen, was für ein Aufwand…
Und für was?
Nachdem ich mich rückversichert habe, ob das Ganze noch aktuell ist, muss sofort etwas geschehen. Immerhin sind die Bahnhöfe so bemerkenswerter Münchner-Speckgürtel-Käffer wie Poing, Markt Schwaben und Hörlkofen weiße (bzw. rote) Flecke auf der Karte. Sie fehlen ebenso wie der gebäudelose Regionalzug-Haltepunkt Walpertskirchen und die S-Bahnhöfe St. Koloman und Ottenofen.
Das wundert mich nicht, vermutlich haben die Initiatoren Dutzende Bilder vom Münchner, Hamburger oder Stuttgarter Bahnhof zugeschickt bekommen. Aber wer rührt sich schon aus den Tiefen der Provinz?
Also nehme ich mir eine Stunde Zeit, klappere die Haltepunkte meiner Nachbarschaft schnell mal ab, mache ein paar Bilder. Sechs Bahnhöfe auf einen Streich. Das ist doch mal was.
Und das werden nicht die letzten Bahnhöfe sein, von denen ich Fotos an Gaby Becker schicken werde.
Sollte diese großartige Idee jemals gelingen, dann nur so, wen es genug Menschen überall im Land gibt, die die Haltestationen bei sich in der Gegend abklappern und Fotos machen. Ich bin jedenfalls dabei. Esther Debus-Gregor auch.
Und Sie?
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Also wirklich „Verrückte“ scheint es nicht viele zu geben. Der Beitrag hier hat mich aber bewegt Gaby einige Pixel zuzuspielen ;-) und den Bereich in dem ich wohne grüner zu gestalten – zumindest auf Gabys Karte.
Spannend, was man da da so nebenbei noch entdeckt. Ganz so uneigennützig war die Aktion dann doch nicht. Ein paar Orte werde ich wohl noch mal besuchen.
Danke für den schönen Beitrag und die Idee dort mitzumachen!
Viele Grüße, Birgit
Spontan hätte ich gesagt: Auf solche „Schmarren“-Ideen, wie du selbst sagst, kommen nur Briten. Dann sagst du, dass dir sowas auch gefällt.
Als Nächstes hätte ich gesagt: Völlig sinnlose Projekte können nur Männern einfallen. Aber dann sagst du, eine Frau sucht Fotos von sämtlichen deutschen Bahnhöfen.
Ich gebs jetzt auf, versuche das nicht zu verstehen und guck mal, ob unsere „Provinsbahnhöfe“ schon bebildert sind. Sonst kann ich gerne aushelfen. ;-)
Lieber Gruß! :-)
Es gibt übrigens eine weitere verrückte britische Aktion zu dem Thema Bahnhöfe: nennt sich „allthestations“ und ist hier zu finden: https://allthestations.co.uk/
Die beiden Akteure, weiblich und männlich, bereisen Great Britain und filmen und fotografieren jeden der 2563 Bahnhöfe.
Ich finde das ziemlich genial. Wir schauen halt gerne Bilder ;-). Ansonsten habe ich vorhin einen ganz langen Kommentar bei der Birgit https://www.seh-n-sucht.de/BLOG/7470-im-bahnhofsrausch/#comment-2555 eingestellt. Ist aber noch in Moderation. Geht bestimmt schnell online.
Lieben Gruß und Danke fürs Mitmachen!
Mindestens mal zwei Frauen ?
„Aber wer rührt sich schon aus den Tiefen der Provinz?“ Und ich kann als #bahnhofsfoto.Grafin sagen, da sind teilweise echt Schmuckstückchen drunter. Und dank #bahnhofsfoto.s kann ich sagen, komme ich an Stellen, wo ich sonst niemals einen Anlass sehen würde hinzukommen. Und es sind durchaus besuchenswerte Orte darunter.
Schön, dass Du dabei bist und uns aus einer noch recht fotografenarmen Gegend unter die Arme greifst. Ich freu mich auf eine Fotos.
Also für mich klingt die Idee gar nicht bekloppt. Aber ich finde ja auch Zufallsreisen lustig Und momentan probiere ich mit meinem Fahrrad „planlos in Deutschland“ zu fahren. Ohne Karte und ohne GPS-Unterstützung, nur der Fahrradbeschilderung folgend. Ja, es geht mittlerweile, auch wenn so manche Wegweisung in mir ein HÄ? bewirkt, gerade wo ich mich auskenne und eigentlich anders fahren würde. Hatte auch schon überlegt, nach und nach alle Inseln in Deutschland zu besuchen. Langer Rede kurzer Sinn: ich versuche mal die fehlenden Kölner Bahnhöfe einzusammeln, aber erst wenn es nicht mehr ganz so warm ist.
Wenn ich nur vorher von der Site erfahren hätte, dann hätte ich mir natürlich „meinen“ Bahnhof Markt Schwaben gesichert. Schöne Idee, so was mag ich.