Overloaded – komplett überladen
Overloaded – überladen. Und damit ist nicht die Wursttheke gemeint.
Zu viele Reize. Es geht einfach nicht mehr. Und das, obwohl ich beim Metzger meines Vertrauens bin. Dort kaufe ich eigentlich immer ein. Ich kenne mich aus, kenne das Personal und fühle mich auf vertrautem Terrain.
Manchmal aber reicht auch das nicht.
Ich muss hier raus. Sofort.
Ohne auch nur ein Zipfelchen Wurst gekauft zu haben, ohne Schreien (das wäre würdelos), aber mit Puls bis zum Hals, einem Schädel, in dem es dröhnt und hämmert und einer Atmung, als sei ich auf einen 2.000er Gipfel im Schweinsgalopp gerannt.
Niemand, wirklich niemand, kann etwas dafür. Niemand macht es etwas falsch.
Eigentlich ist alles so wie immer – und doch ist dieses Mal alles anders.
Selten genug kommt es vor, dass ich die äußerst komplexe Aufgabe zu bewältigen habe, den Wochenendeinkauf allein zu machen. Aber manchmal kommt das eben vor und das ist an sich auch kein Problem.
Als ich die Metzgerei betrete, ist es erstaunlich leer. Es riecht verführerisch nach allerlei Würsten, die Auslage ist gut gefüllt, es gibt auch die Zwiebelmettwurst, die ich fast immer kaufe. Das erkenne ich mit einem Blick. Alles ist gut… noch.
Ich werde prompt bedient und lasse mir Geschnetzeltes für sechs Personen schneiden. Das dauert seine Zeit, die die Verkäuferin und ich mit einer netten Plauderei überbrücken. Small Talk ist nicht unbedingt meine Kernkompetenz, aber wenn es die Situation erfordert, dann gibt es eben Small Talk über unverfänglich Belangloses.
Schlagartig ändert sich die Situation, als sich die Ladentür öffnet und weitere Kunden das Geschäft betreten. Wo kommen mit einem Mal all die Leute her? Warum kommen die alle gleichzeitig? Und hätten die nicht noch zehn Minuten warten können, bis ich durch bin?
Direkt links neben mir platziert sich eine ältere Frau, die die Auslage in Augenschein nimmt. Auf der rechten Seite steht jetzt eine junge Mutter mit ihrer vielleicht zweijährigen Tochter.
Das Kind, kaum, dass es in der Metzgerei ist, überzieht ihre Mutter lautstark und sich permanent wiederholend mit Kaufanweisungen.
Da das die Mutter ignoriert, schnappt sich das Mädchen den Hocker, der in einer Ecke steht, und schiebt diesen munter hin und her. Nun ist eine Metzgerei nicht gerade ein Ort schallschluckenden Inventars, im Gegenteil. Der Hocker verursacht auf den kleinen Fliesen mit den breiten Fugen ein nervtötendes Geräusch. Das sieht auch die Mutter so, die ihrer Tochter bedeutet, den Hocker einfach stehen zu lassen.
Bevor das Kind reagieren kann grätscht die ältere Frau dazwischen: „Ach lassen Sie das Kind doch. Das stört doch nicht.“
Sie lächelt die Mutter an, die dankbar zurück lächelt über so viel Kinderfreundlichkeit und all meine Hoffnung, dass es gleich ruhiger wird, ist mit einem Schlag zunichte gemacht. Natürlich hat mich niemand gefragt, ob es vielleicht mich stört. Und offen gestanden: Ja.
Die beiden Frauen kommen ins Gespräch, eine links, eine rechts von mir. Sowas ist ja auch ganz nach meinem Geschmack. Ich stehe zwischen den beiden, was aber der Kommunikation der Frauen keinen Abbruch tut. Plötzlich steht die Ältere direkt neben mir – mitten in meiner Distanzzone. Ein schneller Blick auf meinen Unterarm zeigt, wie sich sämtliche Haare aufrichten. Im Nacken dürfte es nicht anders sein, aber das sehe ich nicht.
Ich rücke sofort ab, denn ich kann diese Nähe kaum ertragen. Außerdem riecht die ältere Frau nach irgendeiner Seife, Creme oder einem anderen Pflegeprodukt. Der Geruch ist – obwohl es kein Gestank ist – unangenehm. Ist es Fenjala, das meine Oma immer benutzt hat? Oder Tosca, mit der früher die Freundschaft kam?
Wieder mache ich einen Seitwärtsschritt. Die Frau missversteht das, rückt nach, worauf sich sofort aus der Warteschlange, die sich mittlerweile gebildet hat, ein Mann nach vorne in die Lücke schiebt. Jetzt bin ich regelrecht eingekeilt.
Weitere Kunden betreten den Laden, eine Frau, die mir völlig fremd ist, grüßt mich mit einem freundlichen Nicken. Wer ist das? Kenn ich die? Wenn ja, woher?
Um nicht unhöflich zu sein, grüße ich knapp zurück und hoffe inbrünstig, dass mich die Frau nicht in ein Gespräch zieht. Das tut sie zum Glück aber nicht, ich habe ohnehin schwierige, wichtige Entscheidungen zu treffen: Die Auswahl aus etwa siebenundvierzig Salamisorten und vierzehn verschiedenen Schinken zu treffen. Gut, dass ich weiß, was wir sonst immer kaufen – und wenn ich nicht weiterkomme, dann weiß das die Verkäuferin. Mit einem „…einfach die, die meine Frau auch immer kauft“ komm ich ganz gut aus der Misere.
Da es nicht richtig weitergeht, die beiden Frauen im Plausch immer wieder durch ein „Was darf es sonst noch sein?“ an den eigentlichen Grund ihres Hierseins erinnert werden müssen, wird der Kunde, der hinter mir steht, ungeduldig. Er rückt mir auf die Pelle. Mittlerweile hängt er mir so nah im Nacken, dass ich sein schweres Atmen höre und zu spüren meine. Meine Nackenhaare müssen mittlerweile stahlhart von meiner Haut abstehen.
Der Mann macht einen langen Hals und streckt ihn über meine Schulter, um die Auslage zu sichten. Sein Atmen rasselt mir ins Ohr, er grummelt zu sich selbst sprechend allerlei Kommentare in seinen nicht vorhandenen Bart. Das Kind schiebt den Hocker noch immer durch den Laden. Die Frauen palavern. Der Metzger kommt ins Geschäft und grüßt die Kunden. Eine Verkäuferin schaut fragend, wer als Nächstes bedient werden muss. Es riecht nach frisch aufgeschnittener Salami und penetranter Altfrauen-Kosmetik. Der Fleischwolf zerfetzt brummend Schweine- und Rindfleisch zu Gehacktem. Ein Handy klingelt. Die Aufschnittmaschine rattert unaufhörlich. Die Frau, die mich kennt, aber ich sie nicht, hebt an, mich etwas zu fragen… es reicht. Alles ist überladen. Nicht nur die Wursttheke. Auch ich.
Da ist er. Der Overload.
Was es denn sonst noch sein dürfe, fragt mich freundlich die Verkäuferin. Sie muss sich wiederholen, bis ich überhaupt registriere, dass sie mit mir gesprochen hat. Egal, was noch fehlt, ich muss hier raus.
Sofort.
„Danke, das war alles, presse ich hervor und denke gar nicht mehr an meine Zwiebelmettwurst.
Im Durchmarsch geht es zur Kasse. Jetzt noch bezahlen, ins Auto, Tür zu. Endlich Ruhe.
Erwähnte ich schon, wie sehr ich es begrüßen würde, wenn die Metzgerei meines Vertrauens endlich einen Online-Shop einrichten würde?
Klicken – bestellen – bezahlen – die Tüte mit der Ware einfach abholen. Fertig.
Vielen Dank fürs Lesen.
Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn Ihren Freunden weiterempfehlen – z.B. über Facebook, Twitter, in Internetforen, Facebookgruppen o.ä.
Gern dürfen Sie den Artikel auch verlinken.
Haben Sie Fragen oder Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie bitte das Kommentarfeld.
Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann
Subscribe to get the latest posts sent to your email.
Hitchkock hätte es nicht besser inszenieren können!!!
Hitchcock mit „c“ …natürlich.
Genau so ist es. Da macht Lebensmittel shopping unglaublich viel Spaß.