Als der Ernst des Lebens begann und die Leichtigkeit verloren ging – heute vor 20 Jahren
Es war ein wunderbarer Spätsommertag heute vor zwanzig Jahren; nicht zu warm, aber sonnig. Aufgeregt standen rund 60 Kinder im Nachbardorf vor dem Schulhaus. Nicht weniger aufgeregt auch die Eltern, die die Kleinen immer wieder umkreisten und von allen Seiten fotografierten – herausgeputzte Erstklässler an ihrem ersten Schultag, stolz die Schultüte in der Hand, zahnlückenlächelnd. Unsere größere Tochter war eine von ihnen.
Dann ging es hinein, eine Ansprache der Direktorin in der Pausenhalle, die Verteilung der Kinder auf die beiden Klassen, der Schulchor sang Alle Kinder lernen lesen, anschließend ging es in die Klassenzimmer. Schnell waren die Plätze verteilt, die Klassenlehrerin lichtete das Chaos und komplimentierte uns Eltern hinaus, nach etwas mehr als einer Stunde sollten wir wiederkommen und unsere Kleinen abholen.
Der Ernst des Lebens hatte begonnen. So raunte man sich unter den Eltern zu; wissend, lächelnd, kopfnickend und voller Spannung, wie sich unsere Kinder nun machen würden. Klassenarbeiten, in Bayern Schulaufgaben genannt, Hausaufgaben, üben, üben, pünktliches Aufstehen, ab zum Schulbus, Freude auf die Ferien, Verweise, vergessene Hausaufgaben und Sporttaschen, Klassenfahrten, gute Noten, enormer Stress und große Belastungen vor dem Übertritt, schlechte Noten – all das würde die Zukunft bringen.
Während viele andere Erstklässler mit ihren Familien ins Wirtshaus zum Mittagessen gingen, blieben wir daheim. Wir hatten keine Familie am Ort, mit der wir diesen Tag hätten feiern können – außer mit uns selbst. Also machten wir es uns zu Hause gemütlich. Außerdem stand am frühen Nachmittag der Reitunterricht an. Ich war der, an diesem Tag die Kinder hinfahren wollte. Als berufstätiger Vater hatte ich nur selten die Gelegenheit dazu, die Kinder im Stall abzuliefern, ein wenig an der Brüstung (heißt das so?) im Stall zu stehen und zuzuschauen und dann diskret zu verschwinden.
Es war meiner Meinung nach, egal ob Reiten, Schwimmen, Skifahren, immer sinnvoll, wenn die Eltern sich schnell außer Sichtweite der Kinder zurückziehen, damit die Kleinen sich auf das konzentrieren können, für das sie da sind und nicht auf die zuschauenden Eltern – und auch, damit sie gar nicht das Gefühl haben, die allgegenwärtigen Eltern kümmern sich schon, wenn mal was schief läuft. Nein. Das Lehrpersonal ist geschult und weiß durchaus, was es tut und hat die Kurse im Griff. So meine Meinung.
Also fuhr ich wieder heim, nur um bald wieder kehrt zu machen. Nachdem ich die Kinder vom Reiten abholte, fuhr ich auf die benachbarte Tankstelle. Sprit im Tank – so wichtig.
Während ich im Kassenraum wartete, bezahlen zu können, hörte ich dem Radio zu. Statt der üblichen Musik lief eine Sondersendung, Nachrichten live aus New York. Ein großes Unglück war geschehen, ein Flugzeug abgestürzt und das ausgerechnet ins World Trade Center. Der Turm stand in Flammen, Trümmer waren herabgestürzt – die wohl größte annehmbare Katastrophe der zivilen Luftfahrt. Das war um 08.46 Ortszeit, zwei Minuten später startete die weltweite Liveberichterstattung.
Wieder daheim schaltete ich den Fernseher ein, ausnahmsweise und ganz gegen unsere Gewohnheit, dass tagsüber der Fernseher aus bleibt (wegen der Kinder… Sie wissen schon!).
Auf einem Nachrichtensender lief eine Sondersendung mit mehr als verstörenden Bildern. Eine Rauchwolke stand über dem Nordturm. Und dann vor den Augen der Kameras, die Live Bilder sendeten und damit vor den Augen der Weltöffentlichkeit, zu der ich mich an diesem Nachmittag zählte, raste eine Viertelstunde später das zweite Flugzeug in den Südturm, der bald darauf zusammenbrach. 2996 Menschen verloren in Folge dieser Anschläge ihr Leben. Was sich zuerst als Unglück dargestellt hatte, entpuppte sich als brutaler Terroranschlag.
Unvorstellbar, unfassbar…
Und das an diesem wunderschönen Spätsommertag.
Der 11. September 2001 ist einer der Tage, die die meisten von uns nachhaltig in der Erinnerung behalten haben. Fast jeder kann sofort sagen, was er an diesem Tag gemacht hat, wo er war? Wo und wann haben wir von diesem Anschlag gehört? Was empfanden wir?
Mir persönlich fällt nur der Tag der Maueröffnung, der Abend des 09. Novembers 1989 ein, der sich so tief in meinem Gedächtnis eingegraben hat wie der 11. September 2001.
Vor ein paar Tagen hörte ich im Radio ein Interview mit Thomas Nehls, der damals das ARD Studio New York leitete. Er zitierte darin einen Satz, den er in der Süddeutschen gelesen hatte, dass an diesem Tag die Welt viel von ihrer Leichtigkeit verloren hatte.
In Folge des Terroranschlags gab es Vergeltungsschläge, wurden Kriege ausgelöst, die Sicherheitsmaßnahmen wurden massiv verschärft und das nicht nur im Flugverkehr. Es folgten zahlreiche islamistische Terroranschläge und Selbstmordattentate überall, ob Paris, Brüssel, Nizza, London, Berlin, um nur einige wenige zu nennen. Die Welt war eine andere, auch unser Land hatte viel der Leichtigkeit verloren, die wir zu verspüren meinten, seit der Kalte Krieg vorbei war. Wir wussten, wir sitzen nicht mehr auf einem nuklearen Pulverfass des Wettrüstens, seit 1993 die RAF ihre letzte Aktion durchgeführt hatte spielte auch die Angst vor Terror im eigenen Land kaum noch eine Rolle, ganz anders zum Beispiel als in England, in der die Sorge vor IRA-Anschlägen das Alltagsleben schon sehr nachhaltig geprägt hatte. Wir aber spürten eine Art Unverletzlichkeit im eigenen Land, daher diese Leichtigkeit. Die aber ging am 11. September verloren.
Der Ernst des Lebens war zurückgekehrt. Für uns alle.
Und er ist nie wieder verschwunden.
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