Allein unter Wilden…
Berlin und ich.
Wir werden niemals gute Freunde. Ich mag die Stadt nicht besonders, und sie mag mich nicht (oder besser: Ich bin ihr gleichgültig). Berliner, Umlandbewohner und Berlinfans mögen es mir verzeihen, aber ich werde mit der Hauptstadt einfach nicht warm. Ich fühle mich dort nicht besonders wohl. Vielleicht liegt es an den 15 Jahren, die ich mittlerweile im Großraum München wohne, die mich sozialisiert haben, mir das Grantige, Eigenbrödlerische der Südmenschen und gleichzeitig eine instinktive kritische Distanz zu Berlin beigebracht haben. Vielleicht liegt es auch an den vielen Jahren, die ich mittlerweile in einem kleinen Dorf lebe. Keine 1.500 Einwohner zählt diese Gemeinschaft, man sagt „Du“ und „Grias Di“ auf der Straße und kennt sich – sogar als Zugezogener. Fülle, Enge, Menschenmassen, verstopfte Straßen, Parkplatzsorgen – das alles kennen wir bei uns auf dem Land nicht, ebensowenig wie Ampeln oder Gebäude mit Rolltreppen.
Nun kommt es immer wieder vor, dass es mich aus beruflichen Gründen nach Berlin verschlägt. Das ertrage ich mit Würde und Tapferkeit, selbst wenn die Zeit des Aufenthalts mehrere Tage im Moloch Großstadt bedeutet. Zur Steigerung meines Wohlfühlens in dieser Stadt hilft er Ausblick aus dem Fenster auf den Gendarmenmarkt wenig. Da hilft nur Gejammer und so entstehen diese Zeilen auf einem Laptop in einem Berliner Hotelzimmer. Die Eindrücke sind frisch und wollen verarbeitet werden.
Also – worum geht’s?
Kurz gefasst um Herrn P. im Wedding. Es ist Freitagabend. Das Tagwerk ist erledigt, bevor es am Samstagmittag weitergeht, bleibt etwas Zeit für mich. Diese verbringe ich nicht mit Freunden aus alten Zeiten, die es hierher gezogen hat, auch nicht mit ortsansässigen Bekannten, Geschäftsfreunden oder Kollegen. Statt irgendwo in Berlin-Mitte in einem netten Lokal zum Essen zu gehen, zieht es mich in den Wedding. Dort nämlich wird (bzw. wurde, denn ich blicke ja auf das Ereignis zurück) Heiko Wernings neues Buch vorgestellt.
Heiko Werning kenne ich eher flüchtig, wir beide teilen unser beider Leidenschaft für Reptilien und sind uns in diesem Zusammenhang mal begegnet. Während er aber mehr auf die großen Echsen steht, zieht es mich zu Zwergchamäleons und Schildkröten. Neben der Vorliebe für urzeitliche Viecher haben wir weitere ein paar weitere Gemeinsamkeiten. Wir beide stammen aus Westfalen, sind der Heimat zwischen Rhein und Weser entkommen, pflegen eine erfrischende westfälische Direktheit und Spitzzüngigkeit. Wir beide suchen und entdecken die kleinen Absurditäten des Alltags und bloggen unermüdlich dagegen an. Heiko betreibt das wesentlich professioneller und gewinnorientierter als ich, denn er verwertet seine Texte in Lesungen und Büchern und hat es zu einem eigenen Wikipedia-Artikel gebracht. Dafür beneide ich ihn etwas, denn jetzt ist er berühmt. Ich habe keinen Wikipedia-Eintrag, mich kennt niemand, von mir will niemand etwas wissen, zumindest nicht so viel, dass er Wikipedia bemüht. Jammern? Kann ich, aber auch abschweifen.
Zurück zum Thema. Nun also bin ich wieder im Wedding. Das letzte Mal, dass ich einen Fuß in diesen Teil Berlins gesetzt habe, ist über 25 Jahre her. Damals wohnte mein Bruder dort in der Pankstraße. Er hatte sich eine kleine Studentenwohnung genommen und wir nutzten die Gelegenheit, bei ihm einzufallen, wenn wir nach Berlin wollten. Als Student will man das. Man ist jung, unerfahren, sucht das Leben und fällt auf den verführerischen Lockruf der Großstadt herein. Nicht umsonst entstand vor über 1900 Jahren das Bild von der großen Hure Babylon. Hurerei und Gräuel herrschen dort, wie Johannes, der Apokalyptiker so trefflich visionierte. Schon damals hat er über die Stadt alles Notwendige gesagt. Entschuldigung, ich schweife von wieder ab.
Irgendwann zog mein Bruder mit seiner damaligen Freundin nach Spandau, seitdem war ich nicht mehr im Wedding. Dieser Stadtteil war mir sowieso fremd und suspekt. Meine Vorurteile gegenüber dem Wedding entstammen also der Erinnerung, sind aber gut genährt worden von Michael Horenis Buch Die Brüder Boateng. In der Biographie der beiden Fußballer, die aus dem Wedding stammen, stilisiert sich der Stadtteil zwischen Bronx und Brooklyn, London Hackney oder Paris Banlieue. Welcher rechtschaffende Mensch, noch dazu ein Landbewohner, fährt also freiwillig dorthin? Noch dazu, wenn es dunkel ist? Es könnte einem ja weiß Gott was passieren…
Nur was?
In diesem Outland, das in meiner Vorstellung schon an Snake Plisskens New York grenzt lebt und arbeitet Heiko, wenn er nicht gerade auf der Suche nach irgendwelchen Reptilien durch Amerika streift. Hier wird er heute aus seinem Buch vorlesen, das schon den bezeichnenden Titel trägt Im wilden Wedding. Ich bin gespannt.
Das kann ja nur ein Abenteuer werden. Ob das gut geht?
Bestimmt werde ich überfallen und ausgeraubt, oder noch Schlimmeres. Zumindest aber werde ich angebettelt. Das ist mir vorher schon inmitten der Shoppingmeile auf der Friedrichstraße passiert. Dem Mann, der „nur 10 Cent für ein trockenes Brötchen“ erbittet, habe ich fünfzig Cent geschenkt. Als Dank hat er mir eine Hasstirade über die Regierung, sein persönliches Elend und seine langanhaltende Arbeitslosigkeit erzählt. Früher, so erzählt er, sei er Metrologe gewesen. Er habe nur für Professoren gearbeitet, Geräte kalibriert habe er, das sei eine sehr verantwortungsvolle Arbeit gewesen. Ich neige dazu, dem Bettler zu glauben, das Wort Kalibrierung ist ein sicheres Indiz, das findet man nicht auf der Straße. Dann aber, so erzählt er weiter, sei die Arbeitslosigkeit nach der Wende…
Eine Touristin, die mich offensichtlich für einen Einheimischen hält (was mich erschüttert) unterbricht uns höflich, ob ich denn bekannt sei. Erst wundere ich mich, dann bemerke ich, dass sie Ausländerin ist und nicht wissen will, ob ich bekannt bin (das könnte sie ja über Wikipedia prüfen), sondern ob ich mich auskenne. Zum KaDeWe will sie. auch als Nichtberliner weiß ich: Hier ist sie falsch.
Der Bettler bedankt sich überschwänglich für die Münze, wünscht mir einen wunderschönen Tag, mir und meiner ganzen Familie Gesundheit und ein langes Leben und ein Herz voller Sonnenschein. Dann haut er den nächsten an. „Nur 10 Cent für ein trockenes Brötchen!“ ruft er. Tatsächlich habe ich Sonne im Herzen nach diesen zwei Minuten. Und wo bekommt man das sonst für nur fünfzig Cent? Bei uns im Dorf? Ganz sicher nicht.
Im Wedding sicher auch nicht. Ich erwarte nicht, dort einen weiteren Kalibrierer zu treffen. Eher rechne ich mit einem gewaltbereiten Straßenräuber, vandalierenden und randalierenden Jugendlichen, Junkies, die mich mit Aids-verseuchten Spritzen bedrohen, schlägernden Rechte mit Kampfhunden und Bomberjacken, bettelnden Rumänen mit extra verdreckten Kleinkindern, die in unserem Dorf gern noch Zigeuner genannt werden… Eben das ganze Potpourri an Menschen, die der rechtschaffende, ordentliche Mittelklassebürger mit seinem Häuschen im Grünen niemals in seinen Vorgarten lassen würde.
Ich sehe mich unverhohlen in einer der dunkelsten Ecken des Weddings ausgesetzt. Das meine ich jetzt wörtlich und nicht etwa im bildlichen Sinn: Menschenleere Straßen, ein Wohnviertel, ein paar Eckkneipen, spärliche Straßenbeleuchtung, kein Verkehr. Dabei ist es noch nicht mal 20 Uhr. Klar: Hier werden keine Fassaden angestrahlt, hier wälzen sich keine Touristenströme durch, hier stehen nicht mal vor den Dönerläden Tische und Stühle auf der Straße. Es gibt nämlich gar keine… Tische nicht, Stühle nicht, Dönerläden nicht. Schnell setze ich per Twitter an meine vielen Follower einen Status ab: „Bin im Wedding, wenn ich mich bis 24 Uhr nicht melde, schickt Suchtrupps los“. Man wünscht mir Glück, zeigt Unverständnis über so viel tollkühnen Wagemut und gibt mir Überlebenstipps. Die brauche ich auch dringend, denn ich habe Hunger. Und wenn ich hungrig bin, werde ich übellaunig, unleidlich, ungeduldig und mürrisch: Grantig eben. Nichts ist schlimmer als ein todbringender Männerschnupfen. Aber gleich danach kommt ein hungernder Mann. Der ist gefährlich. Das kennen wir von den Mammutjagden.
Nun sollte es kein Problem sein, vor Heikos Lesung etwas Essbares aufzutreiben. Objekt meiner Begierde ist das Typischste, was Berlin zu bieten hat: Currywurst oder noch besser: Döner. Wo, wenn nicht hier?
Zwar gibt es beides auch in München… aber bitte. Ich bin in Berlin, näher ran komm ich nicht.
Nur: Es gibt eben keine. Zumindest hier nicht. So oft ich auch um die nächste Ecke biege und in der Ferne einer Leuchtreklame für irgendein Berliner Bier entgegensteuere, am Ende ist es doch wieder nur ein Spätmarkt. Erwartet habe ich pulsendes Leben, etwa so wie im Münchner Kiez Goethestraße und Schwanthaler Straße. Dort sitzen Türken beim Kaffee oder Tee auf dem Bürgersteig. Überall stehen palavernde Menschen, Halbstarke, Raucher vor den Kneipen. Vor den türkischen Supermärkten hupen Autos, weil wieder mal ein Transporter in der zweiten Reihe hält und Obst und Gemüse ausgeladen wird… Das Übliche folkloristische Gewimmel halt. Vermutlich gibt es das auch im Wedding, aber eben nicht in dieser Ecke. Hier bin ich mutterseelenallein. Einen Moment bereue ich, mich auf das Wagnis eingelassen zu haben. Wie schön ließe es sich jetzt in Berlin Mitte im Borchardt sitzen und ein Wiener Schnitzel verspeisen. Wieder trabe ich um die Ecke und noch mal um die Ecke. Der Hunger steigt, der Unmut auch. Unaufhörlich rinnt die Zeit. Dann endlich:
Ein Dönerladen. So ganz und gar authentisch. Genau, wie ich es erwartet und ersehnt habe: Etwas schmuddelig, türkisches Fernsehen, das niemand beachtet, zwei Männer bei einem Tee, ein kleiner, alter Schnauzbärtiger, der kaum ein Wort von dem versteht, was ich sage, bevor er Fleisch vom Spieß runtersäbelt. „Welche Soße?“ fragt er und beeilt sich „Knoblauch, Joghurt, scharf“ hinterher zu rufen. Darauf bin ich vorbereitet, das fragen sie in München und antworte routiniert „Mit ohne alles!“. Sein Problem, wie er das jetzt interpretiert.
Ich halte keine zwei Minuten später einen Döner in der Hand. „Ein Euro fünfzig“, verlangt der Mann. Das macht mich sprachlos. In München kostet der Döner das Dreifache und ist auch nicht größer. Ich bin gerettet… denn ich bin gleich satt. Wurde auch Zeit. Einen Moment denke ich an den Kalibrierer. Hätte ich ihm doch einen Euro zu den fünfzig Cent gegeben. Dann hätte er sich auch einen Döner leisten können. Mist! Hinterher ist man immer schlauer.
Jetzt aber muss ich los. Mein Handy-Navi weist mir den Weg durch die dunklen Straßen zu dem Veranstaltungssaal La Luz, in dem die Lesung stattfindet. Denn jetzt wird es Zeit. Ich möchte vermeiden, noch tiefer in die dunklen Straßen des Weddings einzutauchen und am Ende vielleicht verloren zu gehen. Außerdem bin ich gespannt auf den Wilden Wedding. So wild kam der mir bis jetzt gar nicht vor… Ob Heiko mich eines Besseren belehren wird?
PS: Klar, das würden Sie jetzt gerne wissen. Eine Leseprobe von Heikos Buch finden Sie hier. Wenn Sie mehr wissen wollen und in Berlin sind, besuchen Sie seine Lesungen, nutzen Sie Wikipedia, da wird Ihnen geholfen. Oder Sie kaufen einfach sein Buch. Das habe ich auch gemacht. Auf dem Rückflug nach München werde ich es lesen. Vielleicht zeigt er mir darin den wirklich wahren, wilden Wedding.
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Diese und 65 weitere Geschichten, viele davon bisher unveröffentlicht, finden Sie auch in dem Buch RENATE UND DAS DIENSTAGSARSCHLOCH. Das Buch ist ab sofort erhältlich und kann für € 9,90 direkt hier oder mit Geduld und Glück im stationären Buchhandel bestellt werden.
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2 Antworten
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