Reisen bildet – wer wollte dem widersprechen?

Vorsicht – es besteht die Gefahr von unflätigen Ausdrücken

Selbstverständlich, wer wollte dem widersprechen, sind Reisen immer auch Erweiterungen des eigenen Horizonts, also Bildungsveranstaltungen.
Als ich zum Beispiel am vergangenen Wochenende quer durch die Republik fuhr, um an einer Tagung teilzunehmen, dachte ich, ich könnte mich gleichzeitig auch längs durch unsere Lande bewegen. Also packte ich ein gutes Buch ein, das mir meine Kinder geschenkt haben, die mir nahezu jeden Wunsch erfüllen, nur, damit ich Selbiges auch tue.
Es ist die Biographie von Wolf Biermann, ich will seinen Grenzgang zwischen vormals West-, dann Ost-, dann wieder West- und schließlich Gesamtdeutschland zu verfolgen. Da quillt die Bildungsbeflissenheit aus jedem Knopfloch.
Fast aber wäre es gar nicht so weit gekommen.

Seit ich mir angewöhnt habe, weitere Distanzen nicht mehr mit dem Auto zu fahren, weil ich das Staustehen einfach satt habe, nutze ich für solche Gelegenheiten öfter mal die Bahn.
So auch dieses Mal – und die Anfahrt zum Bahnhof mache ich auch gleich öffentlich-nahverkehrsmäßig, also mit der S-Bahn.
Entzückt stelle ich in der benachbarten Kleinstadt fest, dass ich gar nicht 15 Minuten auf die nächste S-Bahn warten muss, der Regionalzug fährt ein. Und da ich die Beförderungsleistung von Markt Schwaben nach Bad Wildungen bezahlt habe, nehme ich den Regionalzug, der deutlich eher am Münchner Hauptbahnhof eintreffen wird.
Das verschafft mir Zeit, mich mit dem notwendigen Reiseproviant zu versorgen. Denn im Gegensatz zu vielen Reisenden, die ich in den Zügen treffe, packe ich keine mitgebrachte, daheim geschmierte Knifte aus ihrer Aluminiumfolie aus, habe keine Tupper-Dose mit Apfelschiffchen, Möhrenspalten, Paprika-Streifen oder Gurken-Scheibchen dabei. Ich bin schließlich kein Kleinnager. Keine hart gekochten Eier, keine Buletten, kein Schnitzelchen. Meine Mitfahrer lieben mich dafür.
Stattdessen kaufe ich mir am Bahnhof ein paar Butterbrezen oder käsig belegtes Backwerk.
Vergnügt verlasse ich kurz vor 11 Uhr in München den Zug, schlendere durch die Bahnhofshalle, die zu rezensieren Facebook mich vor Jahr und Tag mal aufgefordert hatte. Ich habe ja Zeit, schaue noch mal schnell auf meinem Ticket nach und vergewissere mich, dass meine Weiterfahrt um 11.17 Uhr auf Gleis 6 beginnt.
Gleis 6? Hä? Echt jetzt?

Stutzig geworden, denn das ist der ausgelagerte Bahnhof für die Regionalanzeige, schaue ich lieber noch mal auf den großen, ausgehängten Plan.
11.17 Uhr fährt kein Zug über Kassel nach Hamburg.
Warum nicht? Ich weiß doch genau, dass ich in einer Viertelstunde die Weiterfahrt antreten werde. Steht doch auf meinem Ticket.
Tja – oder auch nicht. Denn ein weiterer Blick auf den Zettel macht schnell klar, wo das Problem ist. Der Umstieg hätte nicht am Haupt-, sondern am Ostbahnhof erfolgen sollen.
Scheiße – Scheiße – Scheiße, verfickte. Und das war es dann auch schon mit Bildungsbeflissenheit. Der gedanklich genutzte Wortschatz quillt über vor Unflätigkeiten.
Wieso das denn?
Idioten von der Bahn – bisher bin ich doch immer am Hauptbahnhof umgestiegen. Warum nicht heute? Was für ein Bullshit. Arschkrampen.
Wenig hilfreich rät mir der Bahnbedienstete am Infocounter, zu versuchen, mit der S-Bahn zum Ostbahnhof zu fahren und dem Zug doch noch zu erwischen. „Am Hauptbahnhof hält der nämlich nicht.“
Danke, denke ich.
Vollidiot, das weiß ich selbst.
Genug geflucht, jetzt wird gerannt.

Auf Proviantbeschaffung verzichte ich, im Schweinsgalopp renne ich zur S-Bahn, schleudere dabei meinen Koffer, den ich längst nicht mehr hinter mir herziehe sondern in der Hand halte, fast einem Handyglotzer auf der Rolltreppe in den Untergrund ins Kreuz.
Verpiss Dich – ich hab es eilig. Trottel. Arschloch. Mach Platz. Weg da.
Ich springe in die erste S-Bahn, die einfährt (wie gut, dass alle am Ostbahnhof halten) und glotze wie ein Volltrottel permanent auf die Uhr. Noch elf Minuten. Da hätte man nach Stoiberscher Mathematik natürlich auch am Flughafen sein können – wenn man denn den Transrapid zur Verfügung hätte.
Hab ich aber nicht.
Stachus, Marienplatz… endlos langsam quält sich die verdammte S-Bahn durch München nach Osten. Gib Gas da vorne.
Das Schneckentempo – das machst Du doch mit Absicht.
Isartor. Schon wieder ein Halt.
Mach die Türen zu. Mir doch egal, dass noch Leute zusteigen wollen. Sollen die doch die Nächste nehmen, die hier fährt doch sowieso nur bis zum Ostbahnhof. Und alle anderen auch.
Meine Nerven liegen blank. Ich entwickle einen B-Plan, wieder heim zu fahren und doch das Auto zu nehmen.
Noch zwei Stationen.
11.15 Uhr verlassen wir die Station am Rosenheimer Platz. Noch zwei Minuten – unmöglich. Wie soll ich das schaffen, Raus aus der S-Bahn, von Gleis vier die Treppe runter, durch die Unterführung rennen, zweite Treppe wieder rauf zu Gleis 6? Das schaff ich nie.
Nie.
Um 11.16 Uhr fährt die S-Bahn am Ostbahnhof ein. Noch eine Minute. Da der Zug hier endet, steuert er Gleis 5 an. Wenigstens nicht unten durch, wenigstens auf dem gleichen Bahnsteig gegenüber. Könnte vielleicht doch noch klappen. Ich starre aus dem Fenster der S-Bahntür.
Nein. Verdammter Dreckmist, elendiger. Auf Gleis 6 steht kein Zug. Der müsste doch schon längst da sein. Verdammte Scheiße. Der ist weg und damit ist das zuggebundene Ticket für’n Arsch…
Es ist 11.17 Uhr – eine Unverschämtheit.
Entmutigt, sauer über meine eigene Dämlichkeit und frustriert, verlasse ich die S-Bahn.
„Alle aussteigen – dieser Zug endet hier!“
Halt die Fresse, das weiß ich selbst.
Dann höre ich die Durchsage auf dem Bahnsteig.
„Achtung! Auf Gleis 6 hat in Kürze Einfahrt der verspätete Intercity Berchtesgaden nach Hamburg über Würzburg… Kassel… “
Mehr muss ich nicht hören. Schwein gehabt. Mehr als das.
Später im Zug sehe ich, dass der IC auch in München-Pasing hält, was vom Hauptbahnhof nicht nur schneller zu erreichen gewesen wäre, auch hätte ich die Zeit „verlängert“, in dem ich die Strecke parallel zum IC genutzt hätte, statt ihm entgegenzufahren. Warum sagt mir sowas die Kompetenzschleuder am Infostand nicht!
Egal. Ich bin ja drin und könnte mich entspannen und mit der Biermann-Lektüre beginnen.
Dauert aber, bis sich mein Gemütszustand wieder auf Normalniveau runter geschraubt hat. Dass sich das verdammte Spiel in Kassel-Wilhelmshöhe wiederholen wird, weil der Zug nicht nur seine Verspätung nicht aufholt, sondern in Fulda noch auf so’n bescheuerten anderen Zug wartet und noch später dran ist, kann ich in dem Moment nicht ahnen. In Kassel werde ich dann wirklich rennen müssen, um die Regionalbahn nach Bad Wildungen zu erwischen. Und wieder wie ein wildgewordener Berserker den Koffer durch die Gegend schleudern. Eine Minute dort – inklusive Treppen rauf und wieder runter. Oder zwei Stunden warten bis die nächste Regionalbahn in die deutsche Provinz fährt. Soweit kommt’s noch…
Das schaff ich. Und ab geht’s ins Hinterland.Reisen bildet - auch Ungedanken

Ich sag’s doch.
Reisen bildet – vor allem Nervenkostüme und Wadenmuskeln. Wieder was gelernt.

 


Vielen Dank fürs Lesen.
Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn Ihren Freunden weiterempfehlen – z.B. über Facebook, Twitter, in Internetforen, Facebookgruppen o.ä.
Gern dürfen Sie den Artikel auch verlinken.
Haben Sie Fragen oder Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie bitte das Kommentarfeld.

Diesen Beitrag weiterempfehlen:

Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann

Subscribe to get the latest posts sent to your email.

2 Antworten

  1. Smamap sagt:

    Sowas kenne ich auch …..
    Seitdem trage ich an meinem Schienbein ein kleine Delle mit mir herum, weil ich vor lauter Rasanz, um doch noch den Zug zu erwischen (der Zubringerzug hatte Verspätung), mit dem Schienbeim am Trittbrett hängengeblieben war.
    Den Zug hatte ich also noch erreicht, und saß dann drin, blutend wie ein Schwein (wofür das Schwein nix konnte).

  1. 17. Juli 2017

    […] seine Reise an, wie weiland Ende März, als ihn eine Reise in ähnlicher Mission ins hessische Bad Wildungen führte. Dieses Mal aber weiß Herr P. an welchem Bahnhof er umsteigen muss und sitzt bald […]