Rokoko im Pfaffenwinkel
Orte gibt’s, da meint man, die seien vor allem für die Touristen da. Mein Schwiegervater zum Beispiel benannte die Herreninsel im Chiemsee als einen solchen, da fahren nur die Fremden hin, die Sommerfrischler. Die Einheimischen fahren deshalb nur auf die Fraueninsel. Eine zugegeben steile These, die aber auch schon weit über 50 Jahre alt ist. Vielleicht war das damals tatsächlich so. Heute zumindest ist die Fraueninsel von Tourist:innen genauso überspült, dass man als Hiesiger die eine wie die andere am Wochenende im Sommer besser gar nicht mehr aufsucht. Aber man hat ja Alternativen. Bleibt für mich die Frage, welche Insel ich als Zugroasta besuchen soll, immerhin wohne ich seit rund einem Vierteljahrhundert hier, bin also weder ein Fremder, Sommerfrischler oder Tourist, aber ein Einheimischer eben auch nicht. Dazu braucht es noch mindestens drei weitere Generationen. Was aber ein anderes Thema ist.
Nicht viel anders dürfte es bei der Wieskirche im Pfaffenwinkel sein. Auch sie steht an einem Ort, von dem man meint, er sei vor allem für die Tourist:innen da. Was natürlich auch ein rechter Schmarrn ist, Busparkplätzen in Hülle und Fülle sowie Souvenirbuden zum Trotz.
In Steingaden-Wies zumindest darf ich mich klar in die Kategorie der Ausflügler einordnen und bin damit näher dran am Tourist als am Einheimischen, was aber letztlich egal ist, denn als ich im März untertags und mittags die Wieskirche besuche, bin ich sowieso fast alleine dort. Niemand also, der mich in die eine oder andere Schublade verräumen könnte.
Offen gestanden: Ich hatte für diesen sonnigen Tag etwas anderes erwartet, mehr Menschen auf jeden Fall, aber auf dem Parkplatz steht höchstens ein Dutzend Fahrzeuge, die meisten mit ortsüblichem WM KfZ-Kennzeichen, ein paar andere noch aber kein einziger Reisebus. Es ist eben gerade nicht Saison, und das finde ich sehr gut. Längst überfällig ist eine Tour dorthin, ich verbinde sie mit dem Besuch im nahegelegenen Polling in der Säulenhalle Stoa 169, zwei kulturelle und künstlerische Antipoden im Pfaffenwinkel, wie sie gegensätzlicher kaum sein dürften.
Die relative Leere führt dazu, dass ich in aller Ruhe diese berühmte Kirche samt Drumherum besichtigen kann, immerhin ist sie seit 1983 UNESCO-Weltkulturerbe, reinstes Rokoko, eine Perle der Baukunst, das Herz des Pfaffenwinkels. Ein wenig sträflich, zumindest nachlässig wäre es da schon, nie dort gewesen zu sein, wird doch in der FB Gruppe Traumhaftes Bayern fortwährend vornehmlich von Touris davon geschwärmt, und nicht nur dort. Das allein ist natürlich nicht der Grund, sie mir anzusehen, viel mehr ist es das „Geht raus! Macht Sachen!“-Gefühl des Frühlings.
Offiziell heißt die Wieskirche „Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland auf der Wies“ und das sieht man dem Hochaltar auch an. Die Skulptur des gegeißelten Jesus in Ketten ist das zentrale Element und ja: Es ist wieder eine Begegnung mit dem Ecce Homo Motiv, auch wenn es hier nicht explizit um die Zurschaustellung geht. Aber es geht um den gedemütigten, gequälten Menschen der weiß, dass er ganz unten angekommen ist und bald getötet wird. Diese Figur bildet Ziel und Zweck der gesamten Kirche.
Eigenartig grob wirkt die Figur, die im 18. Jahrhundert von Mönchen aus Einzelteilen verschiedener Heiligenskulpturen zusammengebaut wurde. Sie ist also mitnichten ein grandioses Kunstwerk eines Holzschnitzers sondern eher Bastelwetk. Das sieht man ihr auch an, es fällt sofort auf,. Aber sie ist geschichts- und geschichtenträchtig und das verschafft ihr ihren exponierten Platz im Altar.
Rokoko in seiner überbordenden Gestaltungspracht muss man mögen: Hier ein Engelchen, da ein Ornament, hier noch ein Skulptürchen, dort ein goldenes Müschelchen. Der allergrößte Fan dieser Überladung bin ich nicht, gleichwohl verstehe ich die Schwärmerei Anderer für die Wieskirche sehr gut. Denn sie ist wirklich beeindruckend: Hell, hoch, lichtdurchflutet, innen von überraschender Leichtigkeit innen trotz ihres wuchtigen Äußeren. Nichts Dunkles, Düsteres, nichts Barock-Schweres haftet ihr an wie zum Beispiel der wenige Jahre zuvor entstandenen Asamkirche in München. Während dort einem Tod und Vergänglichkeit aus jeder Ecke in Form von Totenschädeln entgegengrinst, ist das Vanitas-Motiv in der Wieskirche weit zurückgedrängt zugunsten der Verheißung himmlischer Glückseligkeit. Auch wenn die Pforte zum Himmel im Deckengemälde noch verschlossen ist, besteht doch die Hoffnung, dass sie sich öffnen wird. So zumindest interpretiere ich das Bauwerk in seinerGesamtheit. Muss man klopfen?
Fazit: Die Wieskirche ist natürlich keineswegs vor allem für die Tourist:innen da, sie ist eine Wallfahrtskirche und wird als solche für Gottesdienste ebenso genutzt wie als Ort des Gebets und der Andacht. Gesehen haben sollte man sie in jedem Fall.
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