Norwegen im Frühjahr (#02) – Das Gedränge vor dem Schrei
Schon allein das Gebäude ist beeindruckend: Das neue Munch Museum in Oslo, das in unmittelbarer Nachbarschaft zur mittlerweile weltberühmten Oper errichtet wurde. Ein Samstag Morgen im Museum, das verspricht Gedränge. Aber Online-Tickets mit festen Timeslots, wann man hinein darf, sind schnell bestellt und das erspart zumindest das Anstehen an der Kasse. Und innen verläuft es sich dann doch einigermaßen.
In der Mitte der Säle mit den Munch-Werken sind Kuben aufgebaut. Das schafft zusätzliche Wände für Bilder. In einem wird gezeigt, was wirklich alle sehen wollen. Viele sind nur deshalb hergekommen. Der Star des Museums: Der Schrei.
„No fotos with flashlight allowed“, schreit es aus dem Dunkel, als wieder mal einer an seinem Handy die Blitzfunktion nicht ausgeschaltet hat. In dichter Traube stehen die Menschen vor einer vollkommen dunklen Wand in dem spärlich ausgeleuchteten Kubus. Ein Absperrband kann nur mühsam die Menschen in der ersten Reihe zurückhalten, was nicht nur eben jenen zur Last gelegt werden könnte, die direkt davor stehen. Denn sie werden von immer weiteren Neuankömmlingen, die die Masse verdichten, buchstäblich nach vorne gedrückt.
Da öffnen sich zwei schwarze Platten, sie schieben sich auseinander und geben den Blick frei. Zu sehen ist Der Schrei – dieses Mal in der Variante in Öl, jenes Gemälde von Edvard Munch, das vermutlich zu den zehn berühmtesten Bildern der Welt gehört. Zumindest ist es bei den einschlägigen Listen im Netz immer mit dabei.
Eine halbe Stunde hat die Menge Zeit, das Bild zu fotografieren oder zu bestaunen, dann schließen sich die Platten wieder. Eine Minute später werden in dem kubischen Raum auf einer anderen Seitenwand die dortigen Platten aufgezogen. Zu sehen ist dann – Der Schrei, jenes weltberühmte Gemälde von Edvard Munch. Dieses Mal aber in Öl und Kreide, was das Bild blasser macht. Es ist das erste, dass ich beim Rundgang sehe und ich gebe zu, noch bevor ich überrissen habe, wie das hier funktioniert, bin ich etwas enttäuscht, wie farblos das Bild ist. Und damit bin ich nicht der Einzige.
Auch die Öl-Kreide-Variante ist nur 30 Minuten sichtbar, bevor es wieder den Blicken der Massen entzogen wird. Denn dann öffnet sich auf dritten der Blick auf – Sie ahnen es: Den Schrei. Dieses Mal als Schwarzweiß Lithographie und die heißt eigentlich gar nicht der Schrei sondern Geschrei. Aber wen interessierern schon die Feinheiten?
Nach eineinhalb Stunden beginnt das Ganze von vorne, derweil sich wieder Massen in den Raum schieben, denn die knallbunte Variante in Öl wollen alle sehen.
Munch hat den Schrei vier mal gemalt, zwei Bilder hängen im Munch Museum in Oslo, dazu eine der 50 Geschrei Lithographien, die über die ganze Welt verteilt sind.
Im Museum sind auch jede Menge Meisterwerke zu bestaunen. die aber sind bei weitem nicht so umlagert, ob es die Mädchen auf der Brücke, das Nietzsche-Portrait, die Bilder Angst oder Vampir sind. Viele dieser Arbeiten gefallen mir persönlich besser als der Schrei. Höchst originell finde ich zum Beispiel das Bild Der Tag danach und seine Vorstudien. Ein Hangover-Motiv, das von sehr viel Sachkenntnis zeugt:
Man kann Stunden im Munch Museum verbringen und hat noch nicht alles gesehen, denn neben dessen Gemälden, Skizzen, Plastiken und Drucken gibt es auch mehrere Sonderausstellungen. So sehen wir – welch Glück – auch eine große Schau von Georg Baselitz. Es ist kein Zufall: Baselitz hat immer wieder auf Munch Bezug genommen und ihn gelegentlich auch in seinen Bildern zitiert.
Ernsthaft Kunstbeflissene lassen sich das natürlich nicht entgehen – doch die Masse quetscht sich lieber ein Stock höher vor dem Schrei zusammen. Es grenzt an ein Wunder, dass es dort nicht zum Hangemenge kommt, wenn wieder einer den Arm ausstreckt, dem Hintermann vor die Kamera, um selbst ein Foto zu machen. Oslo ohne Munch geht eben nicht.
Natürlich stehe auch ich in der Menge. Natürlich habe auch ich die Handy-Kamera fotografierbereit im Anschlag. Ja, ich will unbedingt auch das Ölbild sehen, aber das ganze Drumherum, das vollkommen nervig, zugleich hochinteressant ist und die Grenzen zur Absurdität weit überschreitet, zieht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Sind die wirklich hier alle so irre oder tun die nur so? Und wenn: Warum stehe ich dann mitten unter ihnen, um keinen Deut besser?
Munchs Schrei schaue ich mir drei Tage später in aller Ruhe im knapp 2 Kilometer entfernten Nasjonalmuseet noch einmal an. Im Norwegischen Nationalmuseum gibt es einen Saal, der ebenfalls Edvard Munch gewidmet ist. Und dort hängen nicht wenige Bilder, die wir auch im anderen Museum gesehen haben, denn der Maler hat nicht nur sein berühmtestes Bild mehrfach gemalt.
Eine weitere Variante vom Schrei hängt dort scharf bewacht, weil sie vor längerer Zeit mal gestohlen wurde. Aber hier wird sie ganz ohne das ganze Geschiss drum herum präsentiert. Vor allem fehlt die Traube fotografierwütiger Besucher:innen. Wenn mal zwei oder drei Leute davor stehen, ist das viel… Okay: Zugegeben, im Munch-Museum waren wir samstags morgens, im Nationalmuseum dienstags. Wer hat da schon Zeit fürs Museum?
Den Schrei werden wir auf unserer Reise noch oft sehen: In jedem einzelnen Souvenirshop: Auf T-Shirts, Einkaufstaschen, Schirmen, Schürzen, Schreibblöcken, Socken, als Püppchen, Weihnachtsbaumanhänger und was weiß ich noch alles. Kein Shop, der ohne Schrei-Merch auskommt. Norwegen ohne Munch? Undenkbar.
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