Auf dem alten Münchner Nordfriedhof: Engel ohne Köpfe
Die Rettung kam spät – eigentlich zu spät.
Doch von Anfang an.
Mit einem Besuch an einem kalten, regnerischen Tag im März setze ich die Reihe meiner Friedhofserkundungen in München fort. Es war nicht etwa mein Plan, alle größeren Friedhöfe der Stadt abzuklappern, aber so langsam kann ich sagen, dass ich den größeren Teil kenne, und da ist es folgerichtig, sich die anderen auch noch anzuschauen und dort zu fotografieren.
Der alte Nordfriedhof setzt einiges an Wissen um seine Geschichte voraus, will man diesen merkwürdigen Ort einigermaßen verstehen: Dieser Friedhof, der keiner ist, aber irgendwie doch und dann wieder nicht; ein Friedhof, auf dessen Wegen Bedürftige vor einem Lieferwagen und ein paar Biertischen der Münchner Tafel anstehen und Lebensmittel in Empfang nehmen; auf dem unermüdlich Jogger ihre Runden drehen und auf dessen Gelände ein Spielplatz errichtet wurde.
Und ein Friedhof, dessen Grabmäler teilweise auseinander gebröselt sind: Jede Menge hand- und kopflose, steinerne Figuren, erodierte, kaum mehr lesbare Grabsteine. Abgeplatzte Gesichter von Statuen, entflügelte Engel und viele Steine, von denen es nur noch den Sockel gibt. Andere Grabmäler sind von Efeu oder Moos überwuchert oder von den Wurzeln der Bäume in Schräglage gehoben.
Warum ist das so?
Die Geschichte des Alten Münchner Nordfriedhofs ist spannend und wechselvoll. Es lohnt, wenigstens einen kurzen Blick darauf zu werfen.
1986 wurde er in der Maxvorstadt eingeweiht. Der Errichtung war ein erbitterter Widerstand der Anwohner vorangegangen – wie so oft und bis heute. Egal was gebaut werden soll: Es finden sich sofort Leute, die dagegen sind. Selbst bei Spielplätzen.
In München war es lange Usus, dass die großen Friedhöfe am Stadtrand liegen oder gleich weit draußen vor den einstigen Toren der Stadt. Denen aber rückt München in seinem unmäßigen Wachstum immer näher, umschließt sie, so dass sie irgendwann dann doch umgeben sind von Häusern. Bestes Beispiel ist der alte Südfriedhof, der einst vor dem Sendlinger Tor errichtet wurde, nun aber mitten im Innenstadtbereich liegt. Hier aber sollte erstmals ein Friedhof intra muros errichtet werden.
Der damalige Nordfriedhof also wurde mitten hinein gebaut ins Viertel und das passte den Nachbarn ganz und gar nicht – wie halt immer. Genutzt hat deren Widerstand allerdings nichts – wie halt auch fast immer. Der Friedhof wurde trotzdem errichtet und es dauerte nicht lange, da fanden die Maxvorstädter und Schwabinger ihren Frieden damit. Denn das rechteckige, nach strengen Geometrien angelegte Gelände ist zugleich ein kleiner Park in der ansonsten dicht besiedelten und versiegelten Stadt. Er ist, was heute viel deutlicher erkannt wird, grüne Lunge, Schattenspender, Staubfilter, ökologische Nische und Restlebensraum für die Wildtiere inmitten Münchens.
Messungen haben ergeben, dass der Nordfriedhof der kühlste Ort in Schwabing ist. An heißen Sommern ist es ein guter Platz, um der Wärme ein wenig zu entfliehen.
Nur 71 Jahre nach seiner Einweihung aber schienen die Tage des Friedhofs gezählt: Nachdem dort rund 7.000 Gräber errichtet waren, wurden auf Geheiß der nationalsozialistischen Regierung und Stadtverwaltung im Sommer 1939 alle weitere Beerdigungen verboten und die Liegezeit deutlich verkürzt. Der Friedhof sollte einer späteren Prachtallee weichen, die gradlinig auf Hitlers Alterssitz in Schwabing zulaufen sollte. Konsequent eingehalten aber wurde das Verbot nicht, noch 1943 wurde dort jemand beerdigt. Es sollte das letzte Mal gewesen sein.
Die Bombardierungen auf München 1944 richteten auch auf dem Friedhof große Schäden an, die Prachtallee wurde nie gebaut, ein Alterssitz Hitlers in Schwabing hatte sich dann auch 1945 erübrigt und damit der Plan, den Friedhof ganz aufzulassen.
Nach dem Krieg gab es eine längere Phase der Ratlosigkeit in München, was denn nun mit dem Gelände passieren sollte. Dass dort nicht weiter beerdigt werden sollte, war klar, ohnehin war der Friedhof weitgehend voll und Kapazitäten auf Wald-, Ost-, West- und neuem Nordfriedhof gab es mehr als genug.
Das Gelände aufzulassen und zu bebauen kam nicht mehr in Frage, es war noch immer ein Friedhof, auch wenn keiner mehr dort bestattet wurde. Es war aber auch ein Grabstein-Trümmerfeld. Statt diese wieder zu errichten oder neue zu setzen, wurden sie sukzessive abgetragen. Bis auf rund 700 Steine wurden alle abgeräumt. Und auch die verbliebenen 700 wurden mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen. Angehörige, die sich um die alten Gräber kümmerten, gab es nurmehr wenige und so verfiel der Friedhof immer weiter.
Mittlerweile steht der Friedhof unter Natur- und Denkmalschutz, er findet Verwendung als Park. Im Gegensatz zu anderen Friedhöfen darf dort gejoggt werden, die Wiesen zwischen den Gräbern dürfen sogar offiziell auch als Liegefläche genutzt werden. Da er aber noch immer Friedhof ist, sind andere Sportarten, Grillen, wenig bekleidetes Sonnen, Musik abspielen, Hunde… nach wie vor verboten.
Es war richtig, zum Fotografieren einen trüben, kalten Tag zu wählen. Solche Orte entfalten ihren Charme nicht bei blauem Himmel, gleißendem Sonnenlicht und angenehmer Wärme. Womit ich niemanden absprechen will, genau an solchen Tagen auf Friedhöfen Ruhe, Entspannung und eine Bank im Grünen zu suchen. Für Fotos aber ist mir trübes Wetter sowieso lieber, das verstärkt die „Trostlosigkeit“, nimmt aber auch die harten Kontraste aus den Bildern. Dass es die Spaziergänger:innen und Parknenutzer:innen ebenfalls reduziert, nehme ich dankbar mit:
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Schöne Bilder von einem Friedhof, den ich auch gerne besuche. Und mir geht es auch so….an trüben Tagen „passt“ oder wirkt die Stimmung noch mehr.
Immer wieder schön zu sehen, dass solche Orte aus vergangener Zeit irgendwie erhalten bleiben. Auch wenn sie dem stetigen Verfall ausgeliefert sind.