Mediatipps (Teil 46): „Die vollständige Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“ von Art Spiegelman

Es war ein Skandal!
Aber es war doch nur ein Comic!
Eben drum, allerdings nicht nur…
Die Empörung war groß, als der in Stockholm geborene Cartoonist und Comicautor Art Spiegelman seine Graphic Novel Maus – Die Geschichte eines Überlebenden veröffentlichte. Das war 1989 – bzw. es begann 1989, denn die komplette Geschichte teilt sich in zwei Bände auf: Bd. 1. Mein Vater kotzt Geschichte aus (1989) und Bd. 2. Und hier begann mein Unglück, gemeinsam als Die vollständige Maus erst 2008 erhältlich.
Der Skandal war vielschichtig und von Anfang an so angelegt. Wie kann einer es wagen, so etwas unfassbar Grauenhaftes wie den Holocaust in einer Bildergeschichte, in einem Comic zu erzählen? Das ist nicht nur unangemessen, das ist geschmacklos, geradezu widerwärtig, das ist im höchsten Maße den Opfern gegenüber verletztend. So die Sicht vor allem bundesbürgerlichen Denkens, denn das Medium Comic eignete sich in den Augen breiter Bevölkerungsteile allerhöchstens zur Kinderunterhaltung zwischen Micky Mouse und Asterix, vielleicht noch für Superheldengeschichten aus dem Hause Marvel oder DC, aber das war eigentlich schon Schund. Und da kommt einer daher und erzählt den Holocaust in Form einer Tierfabel. Dass Graphic Novels hierzulande kaum etabliert waren, weder als Literatur- noch als Kunstform, machte es nicht leichter. Bestenfalls gab es ein paar sogenannte Comics für Erwachsene, die von den aufgeschreckten, eher konservativen Bildungswächtern empört wegen angeblich zweifelhafter Inhalte ebenfalls scharf kritisiert wurden (Walter Moers, Ralf König…), gleichzeitig feierte die internationale Presse die Graphic Novel als überaus gelungen und wertvoll. 1992 erhielt Spiegelman sogar als erster Comiczeichner den Pulitzerpreis für sein Buch.
Deutschland hatte weder ein entspanntes Verhältnis zu dieser Gattung noch eine entsprechende Tradition, entsprechend wenig Verständnis geschweige denn Akzeptanz für Maus.
Größer noch als die Aufregung über die Gattung war die inhaltliche Gestaltung, die Verwendung von Tiermetaphern, weil der Holocaust als Fabel erzählt wird: Juden werden als Mäuse, Deutsche als Katzen, US-Amerikaner als Hunde, Polen als Schweine, Franzosen als Frösche, Schweden als Rentiere und Briten als Fische dargestellt… allen Tiere so gezeichnet, dass man sämtliche anthropomorphen Klischees gleich mitdenkt.
Darf man das?
Spiegelman wurde dafür heftig kritisiert. In Polen wurden Exemplare demonstrativ verbrannt, in den jüdischen Gemeinden regte sich Empörung, weil Mäuse doch sehr nah an Ratten herangerückt wurden – überhaupt sei das Ganze doch eine Bagatellisierung, Trivialisierung und auch die Rahmenhandlung sei wenig geeignet, den Holocaust angemessen einzuordnen. Denn eigentlich erzählt Maus von Wladek, der in zahlreichen Treffen mit seinem Sohn seine Vergangenheit berichtet. Wladek ist Holocaust Überlebender, in die USA emigriert und hat sich nach dem Suizid seiner Frau zu einem eigenbrötlerischen, geizigen und dickköpfigen alten Mann entwickelt. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist überaus kompliziert und Wladek scheut sich auch nicht, sich enorm rassistisch gegenüber Schwarzen zu äußeren. Das kratzt natürlich enorm am „Denkmal“ der Holocaust-Überlebenden, an ihrer Überhöhung und unbedingten Integrität.
Spiegelman ist nicht der Einzige, der das literarisch thematisiert hat, auch Rafael Seligman hat das getan, auch Leon de Winter.
Maus – so erinnere ich mich, wurde zur „Pflichtlektüre“, schon aus Trotz, schon aus Prinzip. Ich las es, geliehen, fand es bedrückend und in gewisser Weise verstörend. Ziel erreicht, Mr. Spiegelman.
Nachzutragen wäre, dass es im Jahr nach der Veröffentlichung zu einer  Beschlagnahmung von Plakaten für einen Comic-Salon, denn selbiges zeigte das Cover von Maus, das darauf abgebildete Hakenkreuz und so rückte die Polizei aus wegen angeblicher Nazi-Propaganda, nämlich dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, was nach § 86a StGB verboten ist.

Maus verschwand aus meinem Fokus bis im Januar 2022 eine Meldung aus Tennessee in den Medien auftauchte, dass dort eine Schulbehörde die weitere Verwendung des Comics als Schullektüre untersagte. Begründet wurde dies mit der Verwendung von verbal aggressiver Sprache („God Damn“ / verdammt) wie auch der Abbildung nackter Toter.
Was in mir erneut ein „Jetzt erst recht!“ provozierte: Die vollständige Maus landete auf meiner Geburtstagswunschliste und ein paar Wochen später auf meinem Geschenketisch. Zum Wiederlesen… und wiederlesen… und wiederlesen.

Bewusst geht dieser Lese- und Kauftipp heute, am 27.01.2025 online, dem 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Bewusst rücke ich ihn in die Nähe der Kampagne #geradejetzt, die von den KZ-Gedenkstätten initiiert wurde: „These stories still need to be told“ ist dabei ein wesentlicher Bestandteil. Die Geschichte von Maus gehört ganz sicher dazu.

 


Spigelmann, Art: Die vollstänige Maus: Die Geschichte eines Überlebenden

Softcover / 300 Seiten / Fischer Verlag / Veröffentlicht am 01. April 2008 / Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3596180943
Preis: 22,00 €

 


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