Mediatipps (Teil 50): Die Bowie Biographien „Low“ und „Starman“ von Reinhard Kleist
Plötzlich fragt mich einer, was denn der beste Song von David Bowie sei. Wir sitzen in der Mittagspause zusammen, fachsimpeln über Musik, schwelgen in Erinnerungen und Bands, Musiker:innen, an Songs und gleichen dabei unsere Geschmäcke ab. Spontan, ohne nur eine Sekunde zu zögern, antworte ich: „Heroes!“
Hier kommen wir nicht wie bei anderen Interpret:innen auf den gleichen Nenner, mein Gegenüber bevorzugt die Space Oddity. Ich räume auch bei diesem Song Genialität ein, aber Heroes dringt tiefer ins Gemüt und die Befindlichkeiten, es ist einer der Songs schlechthin, an denen satt zu hören, mir immens schwer fällt – auch nicht in der genial gecoverten Version von Moby und Mindy Jones, was es immerhin ins Label der Deutschen Grammophongesellschaft gebracht hat.
Also Heroes. Tiefer noch ins Gemüt weil ungemein verstörend dringt When the wind blows ein, aber das ist nicht der Performance von Bowie geschuldet sondern der Kopplung mit den Bildern aus dem gleichnamigen Zeichentrickfilm von 1986, in dem ein älteres englisches Ehepaar den Abwurf der Atombombe auf ihr Land er- aber nicht überlebt. Ein so liebevoller wie schmerzhafter Film – noch immer sehr aktuell. Vielleicht mehr denn je.
In Reinhard Kleists Graphic Novel Low stoße ich wieder auf Heroes aus dem Jahr 1977, was nicht verwundert, erzählt die Novel doch Bowies Berliner Jahre 1976 bis 1978. Damit knüpft sie an den ersten Band Starman an und schließt mit einem Fast-Epilog die Lebensgeschichte von Bowie im Eiltempo ab. Es ist ein geniales Buch, vorausgesetzt, man ist Fan und man kennt sich aus, denn weder werden die Querverweise zum ersten Teil erklärt, zum Beispiel die Beziehung zu Davids psychisch erkrankten Halbbruder Terry noch holt Kleist seine Leser:innen bei irgendetwas im zweiten Band ab. Man muss es einfach wissen, um es wirklich zu verstehen. Bowie in Berlin lässt sich nicht ohne die Hansa Studios an der Mauer, nicht ohne Tangerine Dream, nicht ohne Brian Eno und schon gar nicht ohne Iggy Pop und Romy Haag erzählen. Das alles wird zum Thema aber nichts wird erklärt. Das macht die Stärke des Buchs aus, leider aber eben auch die Schwäche für alle, die sich dem Ausnahmekünstler Bowie zunächst annähern und Basics über ihn in Erfahrung bringen wollen.
So nah wie in Reinhard Kleists Büchern kommt man der Person Bowie hinter seiner Bühnenfigur selten, aber nichts in seinen Graphic Novels ist voyeuristisch, nichts spekulativ, sensationsheischend oder skandalisierend, vor allem nicht die Geschichte mit Romy Haag, die seinerzeit für reichlich Tratsch sorgte. Das ist das beste an den Büchern.
Statt dessen ist Bowie der tieftraurige Mensch, der von Los Angeles nach Berlin zieht, um sich endlich selbst zu finden, Alkohol und Drogen hinter sich zu lassen, aber auch die Zeit des Starmans, die Zeit von Ziggy Stardust, seiner Figur, seiner Rolle. Vertraut man Kleist, wollte Bowie in Berlin vor allem eines: Einfach in Ruhe gelassen werden. Und er wollte seine Freiheit finden, ausgerechnet in einer Stadt, die ringsum von einer kaum überwindbaren Mauer umgeben war. Er, der Getriebene, zumeist von sich selbst, der sich immer wieder neu erfunden hat und dabei doch wieder und wieder „nur“ in eine andere Rolle schlüpfte, fand sein „Exil“. Es wurde schließlich medial merklich ruhiger um ihn. Die Zeit des Chamäleons, des Enfant Terribles, die Ära von Ziggy Stardust und dem Starman schien endgültig vorbei.
Das Ende ist schnell erzählt, vielleicht etwas zu schnell – ein weiterer Band über die 80er bis zu Bowies Tod 2016 wäre schön gewesen: Über seine Arbeit als Schauspieler, seine Zeit mit Iman Abdulmajid, die Zeit von Ashes to Ashes, Absolute Beginners, Let’s Dance oder seinem Abschiedssong Lazarus.
Mein Tipp für Bowie-Fans kann daher nur lauten: Beide Bände direkt hintereinander lesen, die wunderbare grafische Arbeit Kleists genießen und dabei eine passende Playlist mit Bowies besten Songs abspielen. Denn der Wunsch, die Lieder genau dann zu hören, wenn man die Bilder dazu vor sich sieht, kommt vollkommen automatisch.
Und am Ende darüber diskutieren, welcher nun der beste Song ist.
Lassen Sie mich gern dazu Ihre Meinung unten in den Kommentaren wissen.
PS: Es ist kein Zufall, dass dieser Doppelpack in meiner Liste der 50. Mediatipp ist. Ein Ehrenplatz dem, dem viel Ehre gebührt.
Kleist Reinhard: Low: David Bowie’s Berlin Years
Hardcover / 176 Seiten / Carlsen Comics / 26. November 2024 / Sprache: Deutsch, bebildert
ISBN-13: 978-3551793638
Preis: 25,00 €
Kleist Reinhard: Starman – David Bowie’s Ziggy Stardust Years
Hardcover / 176 Seiten / Carlsen Comics / 26. November 2024 / Sprache: Deutsch, bebildert
ISBN-13: 978-3551793621
Preis: 25,00 €
Lust auf mehr Mediatipps?
Hier finden Sie eine Liste aller Beiträge samt Verlinkung: Die Serien dieser Seite im Überblick.
Vielen Dank fürs Lesen. Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn Ihren Freund:innen weiterempfehlen – z.B. über Facebook, BlueSky, Mastodon, in Internetforen, thematisch passenden Facebookgruppen o.ä.
Haben Sie Fragen oder Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie bitte das Kommentarfeld. Gern dürfen Sie meine Artikel auch verlinken.
Wenn Ihnen dieser Beitrag gut gefallen hat und Sie mir spontan einen Kaffee spendieren wollen, dann klicken Sie bitte auf den Kaffeebecher. Mehr dazu hier.
In meinem Webshop finden Sie ganz neu und exklusiv das Fotobuch Schmetterlinge und Wasserfälle – Bilder und Notizen einer Reise durch Bosnien und Herzegowina. Weiterhin sind im Webshop u.a. auch erhältlich: Mein Fotobuch Im Süden – Bilder eines guten Jahres und die fünf Fotobücher von Ursula Zeidler: Freie Schnauze – Weideschweine, Paare, Münchner Freiheiten – Zwei Jahre Theresienwiese April 2019 – April 2021, Augenblicke, und einfach Kinder.
Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
Konzert vor dem Reichstag Pfingsten in den 80ern war der Hammer. Bowie war eben Bowie und schwebte mit Telefon auf einem Stuhl sitzend von oben auf die Bühne, Absolut beginners ein Highlight und an Weihnachten wie jedes Jahr „Little Drummer Boy“. Oder um es mit Eric Burdon zu sagen „Where are all the good times that been waisted having good times?“ Es waren gute Zeiten und keine Minute verschwendet.
Oh ja, das war eine gute Zeit. Und ein grandioses Konzert.
Danke nochmal für das Buch übrigens.