Erinnern an den Mühldorfer Todeszug
Es ist der 29. Januar 2025. Ein besonders denkwürdiger Tag für Deutschland. Zunächst gedenkt der Bundestag den Opfern des Holocausts. Betretene Minen und Gesichter fast überall im Parlament, mehr oder weniger demonstrativ gelangweilt lässt der rechte Flügel es über sich ergehen.
Dann, nur kurze Zeit später, legt Friedrich Merz seinen Antrag über fünf Punkte zur Migration vor, eine Bündelung an Vorhaben, die nicht nur gegen geltendes EU-Recht, die UN-Charta der Menschenrechte sondern auch zum Teil gegen die Verfassung verstoßen. Merz ist das egal, ein Antrag, über den das Parlament abstimmt, hat rechtlich erst einmal keine Konsequenzen, ist nicht bindend und ändert keine bestehenden Gesetze oder Verordnungen. So gesehen ist es vor allem eine Willenserklärung. Fast einstimmig stimmt die Union zu, ebenso die FDP, aber eben auch die rechtsextreme AfD. Damit hat der Antrag die notwendige Mehrheit und gilt als angenommen. Merz wusste, dass das passieren würde, er hat ganz offiziell die Brandmauer gegen Rechts zum Einsturz gebracht. Und die AfD feixt. Kurz darauf wird der hundertjährige Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg aus Protest sein Bundesverdienstkreuz zurückgeben.
An diesem Tag im Januar stehe ich in Poing am Bahnhof. Gradlinig und kurvenlos zerschneiden die Bahngleise die Gemeinde Poing im Osten von München. Südlich befindet sich der alte Ortskern, im Norden ufern Neubausiedlungen und ein Gewerbegebiet immer weiter aus, der Ballungsraum München braucht Wohnraum und Poing liefert… und liefert. Über die Gleise pendelt sie S-Bahn zwischen München und Erding, über die Gleise kommen lange Güterzüge aus dem Chemiedreieck Burghausen.
Und es verkehrt der Mühldorfer, der Regionalzug, der mal von München nach Mühldorf, mal weiter bis Simbach am Inn an der österreichischen Grenze fährt.
Ein wenig unscheinbar und sicher nicht intensiv beachtet steht im älteren Teil Poings am Pendlerparkplatz am Bahnhof ein Denkmal, errichtet wurde es erst bzw. endlich (!) 2010. Es erinnert an Vorkommnisse, die damals 60 Jahre zurücklagen, heute sind es auf den Tag genau 80. Es war der Zwischenstopps des Mühldorfer Todeszuges. Seitdem finden dort jährlich Gedenkveranstaltungen statt.
Der historische Hintergrund ist schnell erzählt und war hier auch schon mal Thema.
Im Mühldorfer Hart hatte es den Versuch gegeben, mit Hilfe von KZ Häftlingen eine teils unterirdische, mit Bunkern geschützte Rüstungsfabrik zu errichten. Dazu hatte das Konzentrationslager Dachau im Wald ein Außenlager errichtet, Häftlinge dort unter den allererbärmlichsten, brutalsten und unmenschlichsten Bedingungen untergebracht und zur Zwangsarbeit angetrieben. (Zum Mühldorfer Hart gibt es eine eigene Blogtext-Reihe).
Mit dem Vorrücken der Alliierten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurden viele KZ geräumt, „evakuiert“ wie man es nannte und zum Teil heute noch so nennt. Dabei ging es mitnichten darum, Menschen zu evakuieren, um sie in Sicherheit vor einer drohenden Gefahr zu bringen, es ging viel mehr darum, zu verhindern, dass sie von den Alliierten befreit werden und später Zeugnis ablegen könnten von den grauenhaften Verbrechen und somit auch die Täter namentlich zu identifizieren. So auch die Außenlager des KZ Dachau und damit das Waldlager im Hart. Am 20. April 1945 begann die SS mit der Räumung, rund 3.600 Häftlinge, überwiegend Juden, wurden in Güterwagons getrieben, am 25. April setzte sich der Zug in Mettenheim in Richtung Westen in Bewegung. Ziel unbekannt, vermutlich auch unbestimmt, vielleicht nach Tirol. Später wird diese Bahnfahrt Mühldorfer Todeszug genannt werden.
Es war der 27. April 1945, ein Freitag.
In Poing schließlich blieb der Zug wegen eines Defekts der Lok auf einem Nebengleis stehen. Die Weiterfahrt unbestimmt, eine Ersatzlok sollte beschafft werden.
Als sich am Nachmittag in Poing unter den Wehrmachts- und SS-Wachmannschaften das Gerücht vom Kriegsende verbreitete, flohen einige von ihnen, um nicht den Amerikanern als Kriegsgefangene in die Hände zu fallen. Sie entledigten sich der Uniformen und öffneten die Wagons. In Windeseile verbreitete sich das Gerücht auch unter den Häftlingen. Zahlreiche Häftlinge riskierten ausgehungert, abgemagert und geschwächt, zum Teil auch schwer krank, wie sie waren, ebenfalls die Flucht. Aber nur Wenigen gelang es, sich zu verbergen, zum Teil mit Hilfe der Bauernfamilien auf den umliegenden Höfen.
Da sich das Gerücht vom Kriegsende schnell als falsch herausgestellt hatte, nahmen die Wachmannschaften die Verfolgung auf, unterstützt von Anwohnern der Gemeinde.
Der größere Teil der geflohenen Häftlinge wurd aufgespürt, viele von ihnen umgehend erschossen, andere zum Zug zurückgetrieben. Mindestens 50 Tote gab es, mehr als 200 Verletzte. Noch am gleichen Abend nahm der Zug seine Weiterfahrt auf. Drei Tage später, am 30. April wurde ein Teil des Zuges in Tutzing und ein weiterer in Seeshaupt am Südufer des Starnberger Sees von amerikanischen Soldaten entdeckt, die, die das Martyrium überlebt hatten, endlich befreit.
Die Ereignisse sind gut dokumentiert. Zu bagetellisieren gibt es da nichts, zu leugnen noch weniger.
Dem im Würde gedenken, daran erinnern, das ist die einzige akzeptable Umgangsform. Wer einen Schlussstrich ziehen will, will vergessen. Das macht das Geschehene zwar nich ungeschehen, aber das macht es leichter, vieles von dem wieder zu denken, zu sagen und auch zu tun. Und genau das darf nicht sein!
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