Eine Säule ist eine Säule ist eine Säule

Eine Säule ist eine Säule ist eine Säule
Eben nicht.
Zumindest dann nicht, wenn der deutsche Maler Bernd Zimmer, seine Finger mit im Spiel hat. Einst gehörte er zu den Neuen Wilden in den 80ern den deutschen Kunstbetrieb gehörig umkrempelten.
Gehörig umgekrempelt hat er auch die eher verschlafene Gemeinde Polling, in der er lebt, als er mit seinem Projekt Stoa 169 dort aufschlug. Stoa leitet sich dabei nicht etwa vom bayerischen Dialekt ab, was „Stein“ bedeutet, sondern ist der altgriechische Begriff für eine Säulenhalle, will also architektonisch verstanden werden, aber auch philosophisch, den die Stoa war einst auch eine angesehene Philosophenschule, die sich, man ahnt es, im antiken Athen in der dortigen Säulenhalle am Markt traf. Folgerichtig nannte man sie später die Stoiker.
So viel Vorverständnis ist hilfreich, wenn man heute in Polling die auf einem etwas abseits gelegene Stoa 169 besichtigt, auch eine Säulenhalle auf grüner Wiese nahe der Ammer. Ruhig und beschaulich geht es dort zu, zumindest wenn man (wie ich) an einem Wochentag morgens dort vorbeischaut. Ein paar Wander:innen ein paar Spaziergänger:innen, dabei zieht doch die Stoa 169 seit ihrer Einweihung 2020 mehr und mehr Leute an. Mich eingeschlossen.

Weitaus weniger stoisch ging es im Vorfeld zu, der Gemeinderat echauffierte sich, weil er in die Projektplanung nicht so einbezogen wurde, wie er sich das gewünscht hatte. Erörterungen in nicht-öffentlichen Sitzungen führten zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde wegen mangelnder Öffentlichkeitseinbindung gegen die Bürgermeisterin, es ging, liest man die alten Zeitungsartikel nach, um die üblichen Bedenken: Zufahrt der Baufahrzeuge, Parkplätze, Klos, Müllentsorgung… vor allem aber war es das Gefühl im Gemeinderat, nicht in die Entscheidungen mit einbezogen worden zu sein, was zu massiven Befindlichkeitsstörungen geführt haben soll.

Der bekannte Kanon der „Was wäre wenn…“ Überlegungen der kleinen Geister, die diskutiert werden, bevor etwas Großartiges entstehen kann, kamen zusätzlich aufs Tapet: Alles was neu ist, ist bedenklich, und was wild ist, sowieso…
Bernd Zimmer aber wusste Antworten auf alle Bedenken und so konnte die Stoa dann doch realisiert werden.
121 Säulen tragen jetzt ein Betondach. Jede Säule wurde von einem Künstler, einer Künstlerin oder einer Gruppe ganz individuell gestaltet. „Das Nebeneinander unterschiedlicher Vorstellungen von Kunst- gedacht und erfahrbar in der Form einer Säule oder Stele – zeugt in der Stoa 169 vom Denken der Künstlerinnen und Künstler sowie der bildenden Kunst in unserer Welt. Es entsteht eine Insel des freien Diskurses“, so Bernd Zimmer.

Eine Säule ist eben nicht eine Säule, denn es ist unglaublich, wie vielseitig die Künstler:innen sich dem Thema angenähert und wie sie es umgesetzt haben. Ich war immer schon ein ganz großer Fan davon, wenn unterschiedliche Menschen das immer Gleiche auf vollkommen verschiedene Arten interpretieren und so eine „Sammlung“ entsteht. Das Thema Säule ist hier zwar nicht abschließend behandelt, es ließe sich sicher noch mannigfaltig weiter deklinieren, aber diese 121 Varianten sind schon mal famos.
Manches erschließt sich sofort, manches gar nicht, zieht man nicht die Broschüre zu Rate, die man vor Ort erwerben kann. Die allerdings lohnt sich unbedingt. Alle Kreativen wurden gebeten, Hinweise zum Werkverständnis zu geben, nicht alle sind dem nachgekommen, einige eher einsilbig, andere hingegen sehr ausführlich.
Im März 2025 schaue ich mir die Stoa an. 121 Säulen von Künstler:innen aus aller Welt wollen gedeutet werden. Es sind Säulen aus Beton, aus Stein, aus Kunststoff, Holz, Glas, Stoff, Knochen, Seilen. Mal sind sie bemalt, mal geschnitzt, bedruckt, strukturiert, einige sehr ironisch, fast witzig – andere hochpolitisch. Ich entdecke so bekannte Namen wie Daniel Spoerri, Erwin Wurm (Eine Gurke, was sonst) oder Rebecca Horn. Ich sehe auf den Säulen Manifeste, ein Portrait von Fassbinder, eines von Erich Mühsam, ein Supermancape, einen Nierentisch, einen Hermaphroditen, einen Regenbogen, Ölfässer, Schuttrutschen, Metallgeschirr, Plastikflaschen, Hufeisen, einen riesigen Schäkel, Van Gogh’sches Gelb, Kälberknochen… Säulen, die aussehen wie Volkskunst aus der Südsee oder ein Didgeridoo, ein Kajak oder die gute alte Litfaßsäule. Auf einer Säule steht „Thou shall not kill“ und לא תרצח.  Wieso? Warum?
Ich sehe Besucher:innen zwischen den Säulenreihen umhergehen, manche genauso ratlos und trotzdem begeistert wie ich.

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Auch wenn der mitterweile gestorbene New Yorker Konzeptkünstler Lawrence Weiner in seinem Text zur Säule feststellt, dass die Kunstwerke sich selbst erklären, und er deshalb keine Erläuterungen geben will, ist es mitnichten so. Zumindest mir erschließt sich beim ersten Durchgehen längst nicht alles, auch beim zweiten nicht. „Wenn ich es erklären müsste, hätte ich es nicht gemacht. Die Arbeit spricht für sich selbst.“ Für ihn mag das stimmen, für andere braucht es Hilfestellung.
Erst als ich in der Sonne sitze und in der Broschüre blättere, kommen die A-Ha-Effekte, die aber mit Macht. Dann nämlich verstehe ich die knallbunte Säule mit den Giraffenköpfen, sie stammt von dem kenianischen Umwelt- und Sozialinitiative Ocean Sole, deren Mitglieder am Strand angespülte Flip-Flops aufsammeln, zu Kunst und Dekorationsstücken verarbeiten und diese weltweit vertreiben. Nein, Lawrence: Ohne Erklärung hätte ich das nicht begriffen.
Noch einmal schreite ich die Säulen noch einmal ab – mit geöffneten Augen sowieso, nun aber auch mit dem Wissen, worum es geht. Und das macht jede einzelne von ihnen noch großartiger, das Gesamtensemble sowieso.
Welch eine tolle Idee, wie gut, dass es Bernd Zimmer gelang, das zu realisieren. Allen zuvorigen „Wenn und Abers“ zum Trotz. Es wird ganz sicher nicht das einzige Mal bleiben, dass ich die Stoa169 besucht habe.


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3 Antworten

  1. Nati sagt:

    Was hat es mit der 169 auf sich?

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