Die letzte Reise – Ein Beitrag für die Blogaktion im Totenhemdblog
Die letzte Reise – so lautet das Thema bei der diesjährigen Blogaktion im Totenhemdblog, bei dem ich im Redaktionsteam mitarbeite. Blogger:innen sind eingeladen, sich zu diesem Thema Gedanken zu machen und auf ihren Seiten zu veröffentlichen. Das heißt: Heute hier schwere Kost:
Denn die letzte Reise endet allzu oft und für allzu viele im Grauen und im Tod.
Das, so könnten Sie sagen, ist ja zwangsläufig so, denn die letzte Reise ist ja nun eine allgemein bekannte und oft verwendete Metapher für Sterben und Tod. Oft wird sie gebraucht, wenn wer nicht Tacheles reden will, also die Worte verwenden, die einem möglicherweise in der Kommunikation zu hart, zu schonungslos vorkommen. Es hört sich halt empfindsamer an, zu sagen, dass sich wer auf die letzte Reise begeben hat, als zu sagen: Da ist wer gestorben.
Aber um diese Interpretation der letzten Reise soll es mir hier gar nicht gehen – aber irgendwie doch.
Das erste Bild, das sich mir beim Nachdenken zu diesem Thema aufdrängt, sind Fotos von den Todeszügen im faschistischen Deutschland: Deportierte Menschen auf ihrem Weg in die Vernichtungslager – auf ihrer letzten Reise. Aber auch Evakuierungszüge von Konzentrations-(Außen)-lagern, vollgepfercht mit Menschen, von denen schon viele bei Antritt mehr tot als lebendig sind, und sich während der Fahrt die Leichenberge in den Waggons häufen. Die amerikanische Fotografin Lee Miller hat solche Fotos gemacht. Vielleicht, weil ich gerade die Filmbiographie Die Fotografin über Lee Miller gesehen habe, dominieren diese Bilder meine Gedanken.
Aber lasse ich sie weiter kreisen, wenn ich mich tiefer in das Thema eindenke, sind es doch immer wieder Bilder, die von unfassbarer Gewalt und von Genoziden erzählen.
Zwei Geschichte-Podcasts ist es „geschuldet“, dass mir die Berichte von dem Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia einfallen, begangen 1904 bis 1908 durch die damaligen deutschen Kolonialherren. Sie trieben die Menschen in die Wüste – welch eine furchtbare letzte Reise.
Nicht anders war es 1915 an der türkisch-syrischen Grenze, als die armenische Bevölkerung in der Türkei auf Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt wurde. Auch ein grauenhafter Völkermord. Einer von so vielen.
Eine Gedenktafel in Tbilissi auf einem armenischen Friedhof erinnert die Besucher:innen daran. Für mich war es ein Anstoß, sich zumindest ein wenig näher mit der Frage zu beschäftigen, was denn damals eigentlich geschehen ist. Wir wissen so wenig darüber.
Wer will, findet, Tausende Erinnerungsorte für Menschen, deren letzte Reise in den gewaltsamen Tod führt.
Ein paar dieser Orte liegen mehr oder weniger vor meiner Haustür:
Ich stehe im Mühldorfer Hart und später im Mühldorfer Haberkasten in der Ausstellung über Mühldorf in der NS Zeit. Hier konfrontiert mich die Dokumentation mit dem Mühldorfer Todeszug, bei dem im April 1945 überwiegend ungarische Juden aus dem Außenlager nach Tirol gebracht werden sollten, mit dem Ziel, das niemand das Kriegsende überlebt, um Zeugnis abzulegen, was ihm widerfahren ist. Es sollte ihre letzte Reise werden. Der Plan aber schlug fehl, der Zug wurde nach einer Irrfahrt durch Oberbayern von den Amerikanern in Seeshaupt am Starnberger See aufgebracht und die noch lebenden Häftlinge befreit. Zwischendurch hatte es in der Nähe von Poing einen Vorfall gegeben, bei dem viele Häftlinge aus dem stehenden Zug freigelassen wurden, weil das SS Wachpersonal dem Irrtum aufgesessen war, der Krieg wäre vorbei. Aber eine in Poing stationierte Einheit der Luftwaffe trieb sie mit Hilfe der Bevölkerung vor Ort wieder zum Zug zurück – über 50 Häftlinge aber wurden auf der Stelle erschossen. Heute erinnert in Poing ein Mahnmal an das Geschehene. Es wird dringend Zeit, dass ich mir die Skulptur mal anschaue.
Ich stehe in Moosburg, wir besichtigen das Museum und informieren uns über das ehemalige Stalag, das Kriegsgefangenenlager im Dritten Reich. Wir hören von sowjetischen Gefangenen, die von dort ihre letzte Reise nach Hebertshausen bei Dachau antraten – um dort umgehend erschossen zu werden.
Ich stehe in Burghausen auf einem Friedhof. 253 Tote aus dem ehemaligen Massengrab des KZ Außenlagers im Hart wurden hierher umgebettet. Nachdem man sie im Wald verscharrt hatte, wurden sie noch einmal beerdigt, dieses Mal in aller Würde. Die amerikanischen Soldaten zwangen die deutsche Bevölkerung, daran teilzunehmen.
Ich stehe in Dachau in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers, eins ums andere Mal schockiert, bewegt, zutiefst traurig und beschämt. Ohne die geringste Verantwortung für das Geschehene und doch voller Wünsche, es möge sich nie wieder wiederholen.
Ich denke an die Menschen, die dort oder in einem anderen Konzentrations- oder einem Vernichtungslager am Zielpunkt ihrer letzten Reise ankamen. Danach kam nur noch der Tod. Keine Reise. Eine Erlösung?
Warum fällt mir in diesem Kontext das überaus widerwärtige antisemitisch-rassistische Flugblatt unklarer Herkunft ein, das dereinst in der Schultasche des heutigen bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger gefunden wurde? Wurde dort nicht ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ ausgelobt?
Ich sitze in der Halle der VHS Moosburg und lausche Christine Föhringers Eindrücken ihrer Polenreise. Auf Spurensuche war sie, 301 polnischen, jüdischen Gefangenen des einstigen Kriegsgefangenenlagers Stalag zu folgen, die auf ihre letzte Reise nach Lublin geschickt und dort alle bis auf einen erschossen wurden.
Und ich kann mich nicht freimachen, wann immer euphemistisch von letzter Reise gesprochen wird, das vor allem in diesen Bildern zu denken.
Alle Beiträge der Novemberaktion findet Ihr hier aufgelistet.
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Wenn mir nicht schon schlecht wäre, dann wäre es jetzt so. Wir haben in der Schule einen sehr engagierten Lehrer gehabt und viel gelernt über den Nationalsoziallismus und über sinnlose Kriege. Nicht alle wollten davon wissen! Aber wissen es heutzutage alle? Wissen es die Schülerinnen von heute? Wollen sie es wissen?
Ich stand mit den Junioren in Bergen-Belsen und Struthof, in Dachau und habe mit dem Kerle Maus von Art Spiegelman angeguckt – er war erschüttert! https://de.wikipedia.org/wiki/Maus_%E2%80%93_Die_Geschichte_eines_%C3%9Cberlebenden
Maus kenne ich noch von der Veröffentlichung des Comics und der Skandalisierung, ob man die Shoah so darstellen darf. Unfassbar, dass das Buch mittlerweile in den bigotten USA ais vielen Schulbibliotheken wieder verbannt wurde.