Mediatipps (Teil 48): Die Bonner Republik: Vier Jahrzehnte Westdeutschland von Heribert Prantl u.a.

Ein gewichtiges Buch – das kann man schon angesichts des Gewichts von knapp zweieinhalb Kilo sagen. Oder angesichts der 336 Seiten, prall gefüllt mit Fotos aus 40 Jahren westdeutscher Nachkriegsgeschichte. Oder angesichts der vielen einseitigen literarischen Einsprengsel von Martin Walser, Günther Grass, Rio Reiser, Erica de Jong und anderen. Oder – und das ist meiner Meinung nach das Entscheidende: Wegen des Begleittextes des überaus klugen Heribert Prantl, der zu den renommiertesten Journalisten Deutschlands gehört.
All das verbindet sich zu einem gewaltigen Werk Die Bonner Republik: Vier Jahrzehnte Westdeutschland. Und doch ist es eine Tour de Force, ein Schnelldurchlau, der trotz all der in Bildern gezeigten Details des Lebens in unserem Land lückenhaft bleiben muss: Witschaftswunder, Sesamstraße, Flüchtlingsbaracken, VW-Käfer, Trümmerfrauen, Fußball, Freibad, Willy Brandt, RAF, Wolf Biermann, Walkman, Udo Jürgens, Häuserbesetzungen, Karl-Heinz Köpcke, Anti-Atomkraft, Kriegsheimkehrer, Olympia 72, Streiks, Hochhäuser, Autobahnen… und er rollt und rollt und rollt!

Wer die Bonner Republik erlebt hat, wird viele Bilder, oder doch zumindest ähnliche wiedererkennen, wird sich erinnern an die 80er und 70er, vielleicht auch an die 60er, wird vieles vom Hörensagen kennen aus den Geschichten von Eltern und Großeltern, Geschichten von früher, als, wie in vielen Bildern zu sehen ist, längst nicht alles besser war. Prantl und seine Ko-Autoren und -herausgeber Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Aus zigtausenden Pressefotos haben sie eine Auswahl kuratiert, die es in sich hat: Das Beste yon Barbara Klemm, Will McBride, Leonard Freed, Dr. Paul Wolff & Tritschler, Benno Wundshammer, F. C. Gundlach, Jupp Darchinger, Herlinde Koelbl, Robert Liebeck und anderen. Längst nicht immer zeigen sie die großen, bekannten Köpfe aus Politik, Kultur, Sport und Entertainment, der Blick richtet sich schnappschussartig oft auf das Alltagsleben der ganz normalen Leute, fängt sie ein bei ihrer Arbeit, in ihrem Zuhause, bei Sport und Freizeitvergnügen, bei Streiks und Kundgebungen. Ja, es sind auch die ikonischen Bilder (Brandts Kniefall, die Nackten der Kommune 1, Schleyer und das RAF-Fahndungsplakat, Mauerfall) der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Ohne sie würde Wichtiges fehlen. Aber ohne all das andere eben auch. Das macht es so wunderbar austariert. Und es illustriert, was Prantl über die einzelnen Jahrzehnte geschrieben hat. Fast ist es, als erkläre er den jüngeren Generationen, was sie alles verpasst haben.

Beim Durchblättern kommen enorm viele Erinnerungen, manchmal allerdings frage ich mich, ob ich mich wirklich daran erinnere, es erlebt zu haben oder ob nicht nur die immer wiederkehrenden Bilder sich so sehr in mein Gedächtnis gebrannt haben, so als habe ich das selbst alles gesehen. Das Attentat auf die israelische Mannschaft bei der Olympiade 1972 zum Beispiel: Was habe ich, damals 8, wirklich im Fernsehen gesehen, welche Bilder in der Zeitung und was erst später wieder, wieder und wieder? Es fällt etwas schwer, das präzise auseinanderzuhalten.
Beim Durchblättern und Lesen kommt Freude auf, Heiterkeit, aber keine Nostalgie. Der Blick nach hinten auf der Zeitachse kann nicht objektiv sein, aber ehrlich, was heißt: Es darf nicht zu einer Verklärung werden. Und das gelingt dem Buch außerordentlich gut.

Schließlich war früher war mitnichten alles besser: Wettrüsten, Kalter Krieg, Ölkrise, Reagan, Deutscher Herbst, Aids und die Hetzjagd, Smog, Atomkraftdemos, Massenarbeitslosigkeit, Kohl und die geistig-moralische Wende. Wer wollte das schon noch mal erleben? Oder den deutschen Schlager, Vokuhilas, Manta und Nena.

All das brauche ich nicht noch einmal.


Prantl, Heribert u.a.: Die Bonner Republik: Vier Jahrzehnte Westdeutschland

Hardcover / 336 Seiten / Greven Verlag / 01. September 2024 / Sprache: Deutsch, bebildert
ISBN-13: 978-3774309746
Preis: 50,00 €


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