Was von früher: Der Kampf mit dem Akkordeon

Es hätte alles anders verlaufen können, aber so war es nicht: Mit dem Ende der Grundschule endete auch der Blockflötenunterricht bei Herrn Nölle, eine Freiwilligkeitsveranstaltung im Schulgebäude, Extrastunden mit C-Blockflöte, Glockenspiel und gelegentlichen Orff’schen Instrumenten. Ich war nicht der fleißigsten einer, vor allem nicht, was das häusliche Üben betraf, aber Herr Nölle benotete mich gut, bescheinigte mir eine gewisse Musikalität und empfahl die Fortsetzung des Unterrichts mit anderen Instrumenten.
Nicht weiter verwunderlich: Der Flötenunterricht wurde von der städtischen Musikschule veranstaltet und auf diese Weise zog sich die Musikschule gleich jahrgangsweise neue Schüler:innen mit zahlungswilligen Eltern heran. Das ist nun keineswegs verwerflich, aber schon sehr offensichtlich. Denn wer einen Folgekurs buchte, hatte auch schnell einen Platz, wer nicht, so raunte man, müsse auf die Warteliste.
Ungewöhnlich für mich: Ich wollte. Freiwillig.
Wie gerne hätte ich damals Klavier gelernt. Das aber kam nicht in Frage, kleine, platzsparende E-Pianos wie heute gab es nicht, mein Vater weigerte sich kategorisch, ein Klavier zu kaufen oder zu mieten und ins Wohnzimmer zu stellen. Er hintertrieb das mit all seiner Macht und die war, da war ich zehn, schier grenzenlos.
Meine Oma, die zwar keine Melodie auf einer Klaviatur zustande brachte, hatte aber. einen Stutzflügel in ihrem Wohnzimmer stehen. Nur wohnte sie mal nicht gerade ums Eck. „Dann musst du halt jeden Tag zur Oma mit dem Bus fahren und da üben!“ Das war alles, was an Lösungsvorschlägen von meinem Vater kam, als ich den Wunsch nach Klavierstunden vortrug. Und dann kam er mit dem Vorschlag, ich könne doch Akkordeon lernen, das sei doch fast wie Klavier. Schifferklavier eben. Er selbst hatte keine Ahnung, nie ein Instrument gespielt, und konnte daher auch nicht wissen, dass ein Akkordeon viel eher mit einer Orgel als mit einem Klavier verwandt ist. Ja, er war regelrecht begeistert von der Idee, vielleicht, weil er es selbst gern gekonnt hätte und in mir seinen eigenen Traum verwirklicht sehen wollte. Ich weiß es nicht.
Entsprechend wurde der Wunsch nach Klavier systematisch verbaut und gleichzeitig aufs Akkordeon umgelenkt. Mit zehn war ich nicht in der Position oder Lage, klar zu machen: „Entweder Klavier oder gar nichts!“ Das wäre sicher beim „Dann gar nichts“ geendet. Und so lenkte er dann ein, über ein Klavier könne man vielleicht später mal sprechen, wenn das mit dem Akkordeon funktionierte. Er hatte nicht ganz unrecht. Die Instrumente waren teuer, das Geld saß so locker nicht, spontan ein Klavier wäre schon deshalb nicht in Frage gekommen. Aber ein Akkordeon: Ja: Das ging. Vielleicht auch, weil das Shantys verhieß, die er – warum auch immer, er war ja weder Seemann noch stammte er von der Küste – so liebte.
Also Akkordeon. Dass das nicht gerade selten Ziehharmonika oder Quetschkommode genannt wurde, hätte mich damals schon stutzig machen können, aber das tat es nicht.

Freude pur beim Spielen auf dem Akkordeon

Freude pur beim Spielen auf dem Akkordeon – oder auch nicht!

So wirklich begeistert hat mich ich das Instrument von Anfang an nicht, aber wenn es der Weg zum Klavier sein sollte, ok. In den ersten zwei drei Jahren war der Akkordeon-Unterricht gar nicht mal so arg und das üben auch nicht wirklich furchtbar. Allerdings setzte die erste kolossale Ernüchterung schon ganz am Anfang ein. Das Akkordeon war nicht leicht, es wurde in einem großen Koffer aufbewahrt und musste zum Unterricht mitgebracht werden. Der fand (soeben nachgemessen) in einer 3 Kilometer entfernten Schule statt. Ich sah mich schnell getäuscht, wenn ich gehofft hatte, dass mich wer hinfahren und abholen würde. Mit nur einem Auto in der Familie war das kein Thema, schon gar nicht für meinen Vater. Der hatte zwar sein Büro im Haus, aber es wäre trotzdem nicht in Frage gekommen, dass meine Mutter mich gefahren hätte. Nicht mal bei Sauwetter. Zu Fuß sollte ich gehen, über den großen Friedhof abkürzen, da war der Weg halb so weit. Das Akkordeon schnallte ich auf einen Einkaufstrolley, von dem die Tasche abgenommen worden war, und trottete los. Sommers wie winters – den Hinweg durchgängig bergab, den Rückweg dann eben komplett bergauf. Und ja: Ich fand das nicht nur scheiße, ich fand auch den Satz: „Dann kommst du gleich an die frische Luft und etwas Bewegung schadet dir auch nicht!“ noch bescheuerter.
Die zweite noch größere Ernüchterung setzte ein, als ich etwa vier Jahre Akkordeon gelernt hatte. Andere in der Schule lernten Klavier, die meisten Gitarre, einige waren schon auf E-Gitarre umgestiegen, immer durfte mal der eine oder andere sein Instrument mitbringen und der Klasse vorspielen. Die Klavierspieler:innen boten Für Elise (was sonst?), das klang richtig schön. Die Gitarrenspieler:innen spielten irgendwas, ich weiß es nicht mehr und die E-Gitarrenspieler (nur Jungs!) konnten spielen, was sie wollten – es war einfach nur cool. Ein paar Riffs von Smoke on the water und der Drops war gelutscht.
Und dann war da noch wer mit einem Akkordeon: Ich.
Mit 14 ist das eines der uncoolsten Instrumente, das man sich vorstellen konnte, verschlimmert noch durch das einschlägige Repertoire, das überwiegend aus Volks- und Seemannslieder, gern auch ein paar Weihnachtsliedern bestand, dann noch dem Schneewalzer, irgendwelchen Polkas, Ländler und ähnlicher Musik, die einfach komplett an dem, was man in dem Alter mögen könnte, vorbei ging. Hätte ich auch nur irgendetwas davon in der Schule vorspielen wollen?
IM – LE-BEN – NICHT!
Nicht, dass ich mir um meinen nicht vorhandenen Ruf hätte Sorgen machen müssen, aber ich wusste: Das wäre der vollkommene Untergang.

Meine Bitte, mal was Moderneres im Unterricht dranzunehmen, es gäbe doch im Musikhaus Schade in der Stadt auch Noten zu Follow You Follow Me von Genesis, hätte ich mir sparen können. Stattdessen schnee- und flohwalzerte es bis zum Erbrechen. Es tötete radikal und konsequent in mir jegliche Freude an selbstgemachter Musik. Es war, um es etwas gepflegter auszudrücken, die vollkommene Diskrepanz zwischen dem Lehr-/Lernstoff und meiner eigenen musikalischen Identität.

„Wie gut, dass wir damals kein Klavier gekauft haben!“ war der Kommentar meines Vaters, als die Entscheidung gefallen war, mich vom Unterricht abzumelden. Das Akkordeon verschwand mitsamt Notenständer, Metronom und Noten, in seinem grauen Koffer im Schrank.
1981 veröffentlichte James Last, der auch so eine absolute Geht-Gar-Nicht-Person in meiner Generation war, mit seinem Orchester Biscaya, die Melodie wurde getragen von einem Akkordeon. „Wär das nicht schön, wenn du das jetzt auch spielen könntest?“ fragte mein Vater. Als ob irgendein Siebzehnjähriger freiwillig Musik von James Last spielen würde. Er wusste, welche Antwort er bekommen würde, aber das Sticheln konnte er einfach nicht lassen.

Für die nächsten Jahrzehnte blieb das Akkordeon im Schank und später dann auf dem Dachspeicher. So endete meine Karriere als Musiker, noch bevor sie begonnen hatte.

Damit ist mir die Chance verbaut, mich irgendwo in der Welt in die Fußgängerzone zu setzen und hinreißend schön auf dem Akkordeon die Klassiker der Filmmusik oder Bella Ciao zu spielen. Das überlasse ich anderen und höre eine Weile begeistert zu:

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3 Antworten

  1. Nati sagt:

    Wie wäre es wenn du dir jetzt den Wunsch mit dem Klavier erfüllen würdest?
    Dies war auch mein Kindheitstraum den ich mir vor ein paar Jahren erfüllt habe.
    Von Grund auf, denn bis dahin konnte ich nicht einmal Noten lesen, in einer privaten Musikschule.
    Auch wenn ich es aus gesundheitlichen Gründen nach vier Jahren beenden musste, ist er erfüllt dieser Traum.

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