Ziegen, die auf Menschen starren… Wanderung zu den Kylindri bei Karystos

Es muss schon ein wahrer Scheißjob gewesen sein… andererseits: Diejenigen, die ihn ausüben mussten, hatten gar keine andere Wahl. Vermutlich galt die Devise:
Mach es und verreck dran oder verreck gleich.
Steine klopfen ist auch heutzutage kein Spaß, aber in der antiken Welt muss es eine furchtbare Knochenarbeit gewesen sein, vermutlich bewältigt von Sklaven, Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen, keine Ahnung, aber es wäre naheliegend.
Aber der Steinbruch auf dem Südhang des Berges Ochi auf der griechischen Insel Euböa war halt lukrativ. Marmor war ein begehrter Baustoff, nicht nur der schneeweiße, wie man ihn von Carrara her kennt, auch der zwiebelbemusterte aus Karystos.
Also beuteten die Römer ihn aus, wie alles, was damals zu ihrem Weltreich gehörte. Marmorsäulen wurden dort aus dem Fels gehauen, ins Tal transportiert, verschifft und von dort in andere Städte des Imperium romanums gebracht.

Irgendwann war das dann aber vorbei – Rom hatte im 2. Jahrhundert zunehmend andere Probleme als den Bau von Tempeln und Palästen. Und so endete die Arbeit im Marmorsteinbruch. Es sieht aus, als sei das ziemlich abrupt geschehen. Einige Säulen liegen noch immer am Hang des Ochi etwa 800 Metern über dem Meeresspiegel, seit über 1.800 Jahren. Selbst vom rund 5 Kilometer Luftlinie entfernten Strand kann man sie weit oben gut erkennen.
Ein schmaler Pfad führt zu den Säulen, zu denen wir während unseres Urlaubs auf Euböa hinaufgestiegen sind, weil das Leben eben nicht nur aus Schwimmen und Schildkröten besteht. Es ist ein gut gekennzeichneter Wanderweg, der einen (also mich) zwar ganz schön aus der Puste bringen kann, aber technisch gesehen keine besondere Herausforderung darstellt. Man muss weder klettern noch schwindelfrei sein – also ist es genau das Richtige für so einen Flachlandmenschen wie mich.
Rote Kringel und Pfeile auf dem Boden leiten uns Wanderer durch kniehohes Gestrüpp und Ziegenweiden schräg zum Hang immer weiter hinauf.
Und wenn mal auf den ersten Blick kein auf den Fels gemaltes Zeichen zu sehen ist, dann finden sich überall am Wegrand kleine Steintürmchen. Man kann sie gar nicht übersehen.
Ich bin nicht unbedingt ein Fan dieser Steintürmchen. Es ist eine durchaus zweischneidige Angelegenheit, denn sie sind zwar im Gelände zur Orientierung echt hilfreich, bieten aber wegen ihrer Instabilität immer eine gewisse Gefahr, wie mir routinierte Gipfelstürmer mal erzählt haben.
Schnell ist so ein Steinturm umgeblasen oder von einer Ziege umgetreten und die Steine poltern in den Hang, vielleicht auch auf den Weg unterhalb.
Ganz abgesehen tu ich mich schwer mit dieser so gewollten, fast erzwungen wirkenden spirituellen Aufladung von ein paar Steinen. Aber einige Wanderer (und Strandbesucher und wo sonst man diese Türmchen findet) meinen wohl, in der vermeintlich unberührten Natur gerade eine gewisse Spiritualität erfahren zu haben. Und nun müssen sie diese für alle unübersehbar zum Ausdruck bringen. Damit greifen sie natürlich ins Landschaftsbild ein und hinterlassen dem Nächsten eben eine nicht mehr ganz so von Menschenhand unberührte Natur (die es aber, wenn man genau sein will, auf diesem Globus ohnehin nirgendwo mehr gibt).
Wie dem auch sei. Die etwa 30cm hohen Steintürmchen sind dabei wohl eines der kleinsten Übel beim Eingriff in die Landschaft.
Von ihrer Größe her sind die Säulen von Karystos schon ein anderes Kaliber. Die längste ist 11,90 lang, sie alle haben einen Durchmesser von knapp einem Meter bis eineinhalb Meter, wie ich in einem Aufsatz über den antiken karystinianischen Marmorhandel von Maria Chidiroglou im Netz nachlese. Und sie bestehen aus einem einzigen Stück. Nicht etwa einzelne „Trommeln“, die man dann aufeinandergehäuft zur Säule gemacht hat.
Früh morgens starten wir oberhalb des Dörfchens Mili (Μύλοι = Mühlen), als der Hang vor uns noch im Schatten liegt. Das Frühstück haben wir im Gepäck, das wird es dann später oben bei den Säulen geben.
Steil geht es schräg zum Berg immer weiter nach oben. Einen Wanderführer oder eine Karte braucht es nicht, es hätte ohnehin keine geeignete gegeben. Aber ich habe eine Skizze vom Weg, die mir Simone, Tour-Guide bei der Wanderung in der Dimosaris-Schlucht eigenhändig gezeichnet hatte und einige Tipps gleich mit dazu gegeben hatte. Natürlich nehme ich den Zettel mit. Ein wenig ist es, als hätte ich eine Seeräuberschatzkarte dabei, nur dass ihr der angeflämmte Rand fehlt, als ich den Zettel immer wieder mal zur Hand nehme und mich vesichere, dass wir hier richtig sind:
Wir passieren den eingezeichneten Pylon, einen Hochspannungsmast, durchqueren einen Zaun und ein ausgetrocknetes Flussbett, ein kleines Steinplateau und einen Kamm. Der Weg führt uns oberhalb der Cliffs direkt zu dem alten Steinbruch und zu den Kylindri.  Simones Karte erweist sich als äußerst präzise. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn Simone ist nicht nur professionelle Wandergruppen-Führerin sondern marschiert auch in ihrer Freizeit kreuz und quer über die zweitgrößte griechische Insel. Immer wieder hören wir auf dem Weg das dumpfe Läuten der Glocken, die den im Hang grasenden Ziegen um den Hals gehängt wurden. Und das Läuten wird lauter. Wir nähern uns einer Herde und stehen plötzlich mehr oder weniger mittendrin. Einige Ziegen nehmen Reißaus, einige zeigen sich gänzlich unberührt von unserer Gegenwart. Vor allem ein beeindruckend großer Ziegenbock, der sich gerade direkt vor mir einer Geiß  mit mehr als eindeutigen Absichten genähert hat, denkt gar nicht daran, den Schwanz einzuziehen und abzuhauen. Im Gegenteil.
Andere Ziegen starren neugierig auf uns herab.

Unsere unverhoffte Anwesenheit findet ein Hütehund allerdings weniger amüsant. Wild bellend kommt er auf uns zugerannt. Vor uns der in höchster Erregung befindliche Ziegenbock, hinter uns der bellende Hund – das ist der Moment, in dem wir uns fragen, warum wir nicht um diese Uhrzeit einfach auf der Terrasse des Ferienhauses sitzen und frühstücken. Wie man das eben macht als Urlauber…
Zwar macht der Hund auch nur seinen Job, aber es ist kein Schäfer da, der ihm sagt, dass er gefälligst die Schnauze halten kann, das sind nur Wanderer, die tun nichts. Die wollen nicht mal spielen. Der Hund allerdings will das auch nicht.
Also bellt er so lange und kommt bedrohlich nahe, bis der Ziegenbock endlich sein Begattungswerk vollzogen hat und sich samt holder Geiß davon macht. Als auch die letzten Ziegen von sich aus auf Abstand gehen und im wilden Gerenne quer über dem Hang verschwinden, hat der σκύλος seine Schuldigkeit getan und kann gehen. Was er auch tut.
Etwa eine Stunde dauert der Aufstieg von Mili zu den riesigen Kylindri, die vollkommen unmotiviert in der Landschaft herumliegen. Jetzt erst mal Pause, Brotzeit und Fotos, dann geht es den Weg zurück, den wir gekommen sind.
Der Rückweg wird schweißtreibend, denn mittlerweile ist die Sonne über den Berg gestiegen und heizt den Hang auf. Passagenweise besteht die Gefahr, dass kleinere Steine unter den Tritten wegrutschen, so dass man etwas aufpassen und langsam gehen und auf jeden Schritt achten muss. Wie bestialisch müssen die Menschen früher geschuftet haben, die tonnenschweren Säulen den Hang herunterzubringen – und wie viele das wohl mit schweren Verletzungen oder ihrem Leben bezahlen mussten?
Noch vor 11 Uhr sind wir zurück am Auto. Das ist die perfekte Zeit, nach Karystos an den Hafen zu fahren und in einem Café einen Griechischen Mokka und eine erfrischende Lemonade zu trinken.
Danach können wir immer noch die Strandsachen holen und zum Schwimmen gehen.


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