Damals bei ‚Omma Arschloch‘

Im Blog „Gnaddrig ad libitum“ las ich einen wunderbaren Beitrag über Trinkhallen, nostalgisch, erinnerungsschwer und voller Sehnsucht nach etwas längst Vergangenem.
Nun gibt es Trinkhallen möglicherweise immer noch, daran ist nichts Sehnsüchtiges. Aber Blogger Gnaddrig erzählt eben von seinen Kindheitserlebnissen… und der ganz speziellen Trinkhalle, die er mit seinem Großvater oft besuchte.
Damit holt er in mir eine längst vergraben gelaubte eine Erinnerung an einen Kiosk hervor: Die Erinnerung an meine Schulzeit im Gymnasium, an Omma Arschloch* und ihr Büdchen. Zumindest zwei meiner Leser werden sich sicher ebenfalls daran erinnern. Einem verdanke ich die Zusendung der Festschrift 150 Jahre Gymnasium Hohenlimburg, die ich hervorgekramt habe, um dort für diesen Beitrag ein paar Bilder zu klauen – freilich keines von Omma Arschloch und auch keines von ihrem Büdchen.
Womit wir wieder beim Thema sind:

Das Büdchen, ihr Kiosk, war nichts anderes als eine weiß lackierte Hütte, auch wenn von der abblätternden Farbe nicht mehr allzuviel zu sehen war. Ein paar paar Werbeschilder einer lokalen Biermarke waren draußen angebracht – wie die Kioske damals eben so ausschauten. Das Gebäude war vielleicht vier Meter breit, drei Meter tief, vorne rechts die Tür, links daneben ein vergittertes Fenster, das zudem verbrettert war. Zu oft wohl hatten Einbrecher versucht, die schmalen Tageseinnahmen der Besitzerin zu rauben. Entsprechend dunkel und muffig war es drinnen. Es roch nach Rauch und Bier, nach Ausdünstungen der Menschen, die sich dort aufhielten und im Winter nach einem Kanonenofen. So habe ich es in Erinnerung. Nicht gerade einladend.
Hinter dem Tresen, der quer durch den Kiosk lief, stand Omma Arschloch, eine permanent übellaunige, wenig gepflegte Mittfünfzigerin (glaube ich), die morgens schon früh aufsperrte, denn ihr Kiosk lag nicht mal hundert Meter entfernt von dem Eingang zum Schulhof des Mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasiums mit neusprachigem Zweig, das ich besuchte.
Viele Mitschüler brachten vor dem Unterricht ihr Taschengeld zu Omma Arschloch, investierten in Lutschmuscheln, Caramac, sonstigen Süßkram, Dreh-und-Trink oder Sunskist. Während wir Jüngeren in den Pausen zum Verkaufstisch des Hausmeisters Finkbeiner gingen, marschierten die Oberstufenschüler, die das Gelände verlassen durften, zum Kiosk. Sie tranken Kaffee, rauchten eine Zigarette und versorgten sich mit neuem Tabak zum Selberdrehen.

Der Abijahrgang 1982 startet zum Fest-(Besäufnis)-Umzug.

Der Abijahrgang 1982 startet zum Fest-(Besäufnis)-Umzug.

Das war die Zeit, in der auch die ersten Erwachsenen – wo immer sie herkamen – sich in der Bude auf ein Pils trafen und die Weltlage anhand der Schlagzeile der Bild diskutierten. Die etwas Intellektuelleren lasen die heimische Westfalenpost oder die Westfälische Rundschau, in höhere mediale Sphären begab sich dort niemand. Die Männer standen in der Bude, denn anders als bei vielen Kiosken bediente Omma Arschloch nicht aus dem Fenster heraus. Wer etwas wollte, musste hinein, und wer es hatte, blieb drinnen oder ging gleich wieder.
Zum Büdchen zu gehen, das fanden wir Unterstufenschüler cool, auch wenn uns die Biertrinker etwas unheimlich waren. Das hätten wir auch gern gewollt, getraut hat sich das keiner.
Statt dessen standen wir also bei Walter Finkbeiner an, der die Schulmilch austeilte und von unserer Abokarte ein Feld durchstrich. Dann händigte er uns ein kleines Tuffi-Tetrapak aus. Wer wollte, konnte auch warme Milch bekommen, die Tüten hatte die Frau des Hausmeisters kurz in den Ofen gestellt, manchmal aber auch anbrennen lassen. Verkauft wurden sie trotzdem.
Sobald Weihnachten nahte, verkauften Finkbeiners Lebkuchenbrezeln – 10 Pfennig das Stück. Das war dann wenigstens halbwegs ein Ersatz für die Kioskleckereien bei Omma Arschloch und allemal besser als das Pausenbrot von daheim.

Schulfest auf dem Pausenhof - 1977

Schulfest auf dem Pausenhof – 1977

Natürlich hat die Frau es gehasst, dass sie bei allen nur diesen Namen trug. Auch wenn sie natürlich niemand direkt so anredete, war von ihr immer nur als Omma Arschloch die Rede.
Nun wissen wir nicht erst seit Frank Goosens Radio Heimat, dass Arschloch im Ruhrgebiet und den angrenzenden Städten keineswegs eine Beleidung darstellen muss. Mitnichten, fast ist es eine Art zärtliches Kompliment, eine Anerkennung und Auszeichung, jemandem fröhlich ein „Ey, alten Arschloch“ (**) entgegenzurufen.
Daher war es völlig unverständlich, dass die Büdchen-Besitzerin irgendwann bei Schuldirektor Helmut Lingen vorstellig wurde und sich beschwerte. Dieser verfasste einen Rundlauf, der von Klasse zu Klasse ging. Die unterrichtenden Lehrer wurden aufgefordert, der Schülermeute klar zu machen, dass Omma Arschloch keine respektvolle Anrede sei und wir dies zu unterlassen hätten.

Das Lehrerkollegium des Gymnasiums Hohenlimburg 1977 - in der Mitte Rektor Lingen

Das Lehrerkollegium des Gymnasiums Hohenlimburg 1977 – in der Mitte Rektor Lingen

Gewirkt hat es – soweit ich mich erinnere – nicht. Es ging auch niemand hin, um sich bei der Frau für diese schnöde An- oder Nachrede zu entschuldigen. Irgendwann wuchs Gras über die Sache.
Omma Arschloch hieß auch weiterhin Omma Arschloch und verkaufte noch missgelaunter ihr Zeug.
Vollends aus der Fassung geriet sie, als eines Wintermorgens Lehrerin Annegret Ameling, die schmale und steile Gumprechtstraße (vormalige Moltkestraße) hinab fuhr auf dem Schnee nicht mehr bremsen konnte und direkt in ihr Büdchen rutschte. Das war die Senstation des Tages.
Schnell war das meiner Erinnerung nach grüne Auto von Schülern umringt, die neugierig die eingedrückte Kioskwand begutachteten und gespannt warteten, wie Omma Arschloch reagierte. Hätte es nicht zum Unterricht geläutet, die Schüler wären vermutlich noch Stunden da gestanden.

Irgendwann war Omma Arschloch dann weg, ein anderer Mensch stand im Kiosk und versuchte, sein Geschäft zu machen.
Irgendwann war auch der Kiosk weg, und irgendwann auch das Gymnasium…
1983 zog der Schulbetrieb in einen Neubau. 2015 wurde das alte Gebäude abgerissen.
Alles hat seine Zeit.

Was bleibt?

Eine Erinnerung, eine Geschichte und der Wunsch, um Enschuldigung zu bitten:

Sorry, Omma Arschloch,
dass wir Sie so genannt haben. Es war nie böse gemeint.
Ihren richtigen Namen kannten wir übrigens gar nicht.

  • Für alle, die nicht aus der Region stammen, muss erwähnt werden:
    Omma wird hier mit kurzem, stimmlosen O gesprochen. O wie Opfer.
    Hinzu kommt ein langes, summendes M – wie Hammer. Darum habe ich es auch so geschrieben.
    ** Und hier ist der grammtikalisch falsche Akkusativ zwingend vorgeschrieben.

 


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7 Antworten

  1. Smamap sagt:

    Ein wunderbarer Artikel.
    Er erinnert mich, warum auch immer weil gar nicht vergleichbar, an jene Zeit, als, damals in der Realschule, die Einstiegsklasse, sprich die 7., immer ausquartiert war in einen nahegelegenen ehemaligen Garnisionsbau.
    Der Nachteil: Wir waren i-wie ständig unterwegs, zwischen Hauptgebäude und Garnisionsbau, weil manche Stunden eben doch „drüben“ stattfanden.
    Der Vorteil: Im Sommer, wenn alle schwitzten und es doch kein Hitzefrei gab, da saßen wir in jenem Gebäude mit seinen mindestens 50 cm dicken Ziegelmauern, und hattens angenehm.
    Und im Pausenhof da gab es einen Stand des Hausmeisters, der hatte allerlei Leckereien. Das Geld dafür hatte ich nur selten, aber wie gern hätte ich was von den Leckereien gehabt. Den Namen der Leckerei oder des Hausmeisters weiß ich nicht mehr. Aber so paar Erinnerungen sind durch den Beitrag wieder aufgetaucht.

  2. Zoé sagt:

    Eine schöne Erinnerung!
    Macht mich ein bisschen wehmütig, dass alles vergänglich ist.

    Liebe Grüße

  3. tiker sagt:

    Sehr schön, dass ein kleiner Anstoß von außen eine solche Erinnerungskette auslösen kann.
    Die arme Omma. Ich hoffe, dass sie irgendwann ihre gute Laune wieder gefunden hat.

  4. Peter sagt:

    Bei Omma Arschloch gab es (was auch damals verboten war, sie aber nicht interessierte) Zigaretten einzeln für 10 Pfennig zu kaufen, schließlich konnte sich nicht jeder Mittelstufenschüler gleich eine ganze Packung leisten. Und es gab in ihrem Kiosk noch einen winzigen „Nebenraum“, in dem man sich – einzelne Unterrichtsstunden schwänzend – vor den Lehrern verstecken konnte. Was auch die Lehrer zumindest ahnten. Und ich habe dort nicht wenige Stunden verbracht…..dennoch hat es für einen anständigen Beruf gereicht und das Rauchen habe ich mir auch schon vor 16 Jahren abgewöhnt.
    Diese Bude war baulich in jeder Hinsicht ein Highlight, nicht nur durch die höchst gefährliche Lampe direkt am Ende der extrem steilen Strasse, sondern auch dadurch, dass es direkt hinter der Bude ca. 5 Meter abwärts ging. Erstaunlich, dass all die Jahre nicht mehr passiert ist als Annegret Amelings vergleichsweise harmlose Rutschpartie.

  5. Anhora sagt:

    Tolle Geschichte! Wir hatten damals an unserer Schule auch so ein Büdchen, das man bei uns Lädele nennt. Das Alte Lädele, um genau zu sein, niemand weiß warum es so hieß, denn so alt war es gar nicht. Aber die Inhaberin war ebenso übellaunig, vielleicht wird man das einfach bei so vielen Rüpeln und frechen Gören jeden Tag. ;-)

  6. Dieter Brack sagt:

    Ha,ha Habe selbst von 1970 -72 der Omma „Arschloch“, wenn sie morgens öffnete, die Beschläge von den Fenstern abgenommen. Da sprang immer eine Schachtel Zigaretten bei raus, da habe ich auch schon mal die eine oder andere Verspätung riskiert. Meine damalige Klassenlehrerin „Annegret Ameling“.

    Schöne Geschichte !!

  7. S. Menzel sagt:

    Ich hoffe, Ihr wisst noch, dass es eine zweite Bude gab und diese stand an der Ecke Cowenstrasse-Berufsschule (heute Parkplatz) dort werkelte zu unserer Zeit etwa um 1950 ein Mann und dieser wurde von uns Blagen Oppa Arschloch getauft, war kein Netter, ich glauibe, der hieß Seiler, hatte etwas für junge Mädels übrig und bei ihm gab es auch Eis im Hörnchen zu 10.. Denke, als die Bude abgerissen wurde, wurde automatisch der Name zur Bude am Gymnasium übertragen zu Eurer Omma Arschloch….

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