Pappe weg – Teil 3: Sein Leben in den Griff bekommen

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Frau Dr. Annereose Babenhäuser-Blankewitz ist unentspannt; sogar fürchterlich unentspannt. Das liegt mit Sicherheit nicht an ihrem Namen, denn sie heißt ja im wahren Leben anders. Diesen Namen habe nur ich ihr verpasst, denn ich schätze es, wenn „mein Blogpersonal“, also die Leute, über die ich mich hier auslasse, irgendwelche Namen haben. Es wäre ja nicht nett, sie einfach nur anonym zum Gegenstand meiner Betrachtungen zu machen. Das haben sie nun wirklich nicht verdient. Außerdem wäre es ja nicht nett und verstöße gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht, wenn ich hier ihren richtigen Namen nennen würde. Ganz abgesehen davon, dass ich den ja auch erst erfragen würde. Und das würde Frau Dr. Annereose Babenhäuser-Blankewitz vermutlich befremdlich finden, würde sie von einem ihr fremden Gegenüber in der S-Bahn angesprochen, wie sie denn eigentlich wirklich heißt. Nebenbei bemerkt: Das ist auch der Grund, warum Filter und Wischfinger in Photoshop zum Einsatz kommen, bevor die heimlich gemachten Fotos hier erscheinen. Man anoynmisiert ja sein Gegenüber. So auch Frau Dr. Annerose Babenhäuser-Blankewitz, oder wie immer sie auch heißen mag.
Also noch mal:
Frau Dr. Annereose Babenhäuser-Blankewitz ist unentspannt; sogar fürchterlich unentspannt. Das liegt vermutlich daran, dass sie mit ihrem Leben und ihrer Gesamtsituation unzufrieden ist. Dabei sollte man meinen, dass sie, so wie sie im modisch orangenen Jäckchen und schwarzer Hose da sitzt, zu denen gehört, die es irgendwie geschafft haben. Das hat sie sicher auch… irgendwie. Und genau hier liegt das Problem: Nämlich nur irgendwie, was so viel heißt wie: irgendwie eben auch nicht. Das scheint der Guten Kummer zu bereiten. Womit sie nun genau unzufrieden ist, weiß man nicht, man könnte spekulieren, aber das wird wohl zu keinem Ergebnis führen. Also begnüge ich mich, der Dame, die mir in meiner abendlichen S-Bahnfahrt schräg gegenüber sitzt, zuzuschauen. Frau Dr. Annereose Babenhäuser-Blankewitz liest ein Buch – so eines, das man kauft, wenn man mit seiner Gesamtsituation unzufrieden ist, davon träumt, sein Leben umzukrempeln, noch mal von vorne anzufangen, mental zu entschlacken, alles zu vereinfachen, zu entschleunigen, sich auf eine einsame Insel, den Jakobsweg, ein buddhistisches Kloster oder sonstwohin zurückzuziehen oder was auch immer.
Ich denke, Sie kennen diese Ratgeber. In Buchhandlungen, sofern Sie solche noch betreten, stehen sie zu Hunderten und füllen Kilometer um Kilometer Regalfläche. Und offensichtlich kauft das auch jemand, zum Beispiel so eine wie Frau Dr. Annereose Babenhäuser-Blankewitz?
Ob sie es gekauft oder geschenkt bekommen hat, weiß ich natürlich nicht. Aber sie liest es. Nein: Sie verarbeitet es. Seite für Seite. Immer wieder bricht sie im Lesefluss ab, schaut auf, wirft ihre Stirn in Falten, so als bedenke sie ihre Gesamtsituation und komme zum Ergebnis: „Ja genau!“ oder „Stimmt, bei mir ist das ganz genauso!“ Dann lächelt sie beseelt ob der soeben gewonnenen Erkenntnis einfach so ins Nichts, also mitten hinein in die vollgestopfte S-Bahn und die feierabendlich müden Gesichter der anderen Fahrgäste.
Niemand lächelt zurück. Das verwundert nicht. Aber selbst wenn es so wäre, Frau Dr. Annerose Babenhäuser-Blankewitz würde es wohl auch nicht wahrnehmen. Sie ist zu beschäftigt. Plötzlich blickt sie wieder auf. Dieses Mal ist sie jedoch erkenntnislos, und das sieht man ihr an. Was immer sie gerade gelesen hat, muss offensichtlich mental verdaut werden: Eine unbequeme Wahrheit? Eine Plattitüde? Ein Spiegel vor ihrem Gesicht?
annerose3Frau Dr. Annereose Babenhäuser-Blankewitz verdaut… und verdaut… und verdaut.
Dazu benutzt sie ihre Beißer. Der Unterkiefer setzt sich in Bewegung und fängt an zu mahlen, so, als wolle sie das soeben Gelesene zerkauen. Das scheint sehr trockene und substanzhaltige Kost gewesen zu sein, lebensverbesserliche Vollwertnahrung vermutlich. Zähne reiben gegen Zähne, dass es nur so kracht und knirscht. Frau Dr. Annereose Babenhäuser-Blankewitz merkt nichts davon. Die anderen in der S-Bahn hingegen schon. Es ist nicht zu überhören. Davon inspiriert hole ich mein Handy aus der Tasche und überprüfe, wann ich eigentlich den nächsten Zahnarzttermin habe. Uff… dauert noch.
Plötzlich macht es mir gegenüber ein klackendes Geräusch, und es ist Ruhe. Mit Wucht hat Frau Dr. Annreose Babenhäuser-Blankewitz den Unterkiefer gegen den Oberkiefer schnappen lassen. Jetzt presst sie die Zähne so fest aufeinander wie ein Hund, der sich in ein altes Spielzeug verbissen hat, das er partout nicht wieder hergeben will. Und genauso schaut sie auch aus der Wäsche – verbissen; eben fürchterlich unentspannt. Starr richtet sie ihren Blick ins Leere. Die Augen finden nicht zurück ins Buch. Ich frage mich, ob sie rechtzeitig bemerken wird, wann sie die S-Bahn verlassen muss. Oder fährt sie einfach weiter bis zur Endhaltestelle? Da wird sie dann vermutlich so lange sitzen bleiben, bis sie entweder aus der Trance geweckt wird, wenn sie das Personal aus der Bahn scheucht oder bis sie endlich die Erleuchtung gefunden hat, ihr Leben besser zu sortieren. Mir wurscht. Ich steige jetzt aus.
Auf geht’s. Hinein in ein verbessertes Leben…

 

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Pappe weg! Alle Teile:

Teil 1 – Von der Amtsstube in die S-Bahn
Teil 2 – Empty Spaces
Teil 3 – Sein Leben in den Griff bekommen
Teil 4 – Wer schreibt, der bleibt

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