Ohne Renate gäb’s vielleicht Schlesische Gurkenhappen

Das Drama beginnt bereits in der Tiefgarage. Renate hat ihren Ehemann Harald mit zum Einkaufen genommen. Das kommt offensichtlich nicht allzu oft vor.
Und was macht der arme Mann?
Er parkt nicht dort, wo Renate es gern hätte. Stattdessen stellt er seinen Wagen viel zu weit weg vom Fahrstuhl und viel zu weit weg vom Einkaufswagendepot ab. Die Parklücke, die er ausgesucht hat, ist groß und breit. Bequemes Aus- und Einsteigen ist garantiert. Warum soll er sich also in eine enge Lücke direkt am Ausgang quetschen? Das aber Renate passt nicht. Also macht sie ihm Vorhaltungen. Das geht den ganzen Weg, den die beiden vom Auto bis hinein in den Supermarkt nehmen, so. Als unbeteiligter Dritter, den ich gehe direkt hinter ihnen, werde ich unfreiwilliger Zeuge ihrer Zurechtweisungen. Erst in der Obst- und Gemüseabteilung wird Renate ruhiger und konzentriert sich auf das, für das die beiden hergekommen sind: Den Wochenendeinkauf, der darunter anderem besteht aus Äpfeln, Tomaten, einem Salat und einem Strauß Bananen…
Derweil steht Harald hilflos daneben. Anders als mein Freund Peter, der jeden Samstag mit seiner lieben Frau einkaufen geht, ist Harald eher ein „fish out of water“ im Supermarkt. Nicht, dass er das nicht auch hinbekommen würde, ihm fehlt nur die Routine… und das Vertrauen seiner Frau. Er weiß weder, was wo steht, noch weiß er, was Renate üblicherweise so kauft. Also verharrt er ruhig in der Pose des geduldig Wartenden, der sich seine Zeit mit Umherschauen vertreibt.
Als ihm die Zeit dann doch zu lang wird, schickt Renate ihn schon mal los. Schwarzbrot könne er holen, dann vielleicht Erbsen, Mais und eingelegte Gurken, die er saure Gurken nennt, obwohl ihm seine Frau immer wieder belehrt: „Essiggurken heißen die. Also bring bitte Essiggurken.“
Pflichtbewusst stapft Harald durch die Regalreihen. Das Schwarzbrot ist schnell gefunden und auch das Richtige aus dem Regal genommen. Schließlich kennt er die Packung, denn die steht allabendlich auf dem Esstisch.
Schwieriger gestaltet es sich mit Mais und Erbsen. Es gibt ja so viele Sorten. Welche soll er nehmen? Er sieht Mais und Erbsen nur, wenn sie bereits auf dem Teller gelandet sind.  Dosen und Gläser bekommt er nicht zu sehen. Wie soll er also wissen, was Renate da so kauft?
Man kann ja so viel falsch machen. Schließlich trifft er eine Entscheidung, schleppt Erbsen und Mais zurück in die Ostabteilung, um sie in den Einkaufswagen zu legen. Renate ist dort längst fertig und weiter gegangen. Harald findet sie nach gefühlten stundenlangen Suchen vor dem Kaffeeregal.
„Die doch nicht!“ empfängt Renate Harald. „Die haben wir doch noch nie gekauft. Also wirklich! Du stellst dich aber auch an…“
Wie er sich anstellt, das lässt sie offen. Schade, das hätte ich gern gehört. Denn natürlich verfolge ich aus diskreter Distanz dieses wunderbare Schauspiel. Nachdem sie ihm präzise gesagt hat, was er holen soll, trollt sich Harald erneut zurück zu den Konserven. Tatsächlich schafft er es im zweiten Anlauf, den richtigen Mais und das richtige Glas Erbsen zu finden. Er trägt es zum Einkaufswagen, dann macht er sich erneut auf Entdeckungstour. Jetzt also Gewürzgurken.
Das Angebot ist noch unübersichtlicher als bei den Erbsen. Ein ganzes Regal voller Gurken, Cornichons, Mixed Pickels… Wenn er nur wüsste, was Renate gerne hätte. Einmal hat er es gewagt, scharfe Cornichons zu kaufen – die mit Chili. Da war aber was los am heimischen Herd. Nicht, dass die Cornichons
nicht geschmeckt hätten, aber Renate wollte Rouladen machen, da passen die scharfen Gürkchen nicht.
Einen Moment zögert Harald. Sein Blick fällt auf schlesische Gurkenhappen. Die hat er ja seit seiner Kindheit nicht gegessen. Dabei sind sie so lecker. Man sieht ihm an, was in seinem Kopf gerade vor sich geht.Schlesische Gurkenhappen
Am Ende nimmt er ein Glas aus dem Regal uns betrachtet es verträumt. Ja, das hätte er gern wieder mal. Ein verständlicher Wunsch, welcher Erwachsene gönnt sich nicht hin und wieder etwas, was er seit Ewigkeiten nicht gegessen hat und weckt damit Erinnerungen an lange vergangene Zeiten?
Renate, die mittlerweile neben ihm steht, nimmt ihm das Glas aus der Hand.
„Mensch Harald, die doch nicht!“
Forsch stellt nimmt sie ihm das Gurkenglas aus der Hand und stellt es zurück ins Regal.
„Außer Dir isst die doch niemand. Und dann steht wieder das halbvolle Glas monatelang im Kühlschrank rum, so wie damals mit den eingelegten Käsewürfeln.“
Harald schaut schuldbewusst.
„Aber…“ startet er eine schwache Erwiderung.
„Nichts aber. Am Ende landet es dann wieder am Müll, und das kostet doch alles Geld!“
Das sollte als Harald als aufgewärmte Kindheitserinnerung reichen. Denn das hat damals seine Mutter sicher auch immer gesagt. Meine übrigens auch.
Und Ihre?

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4 Antworten

  1. im Supermarkt ist es doch manchmal noch schöner als im Fernsehen :-)

  2. flurdab sagt:

    Eine sehr sehr traurige Geschichte.

  1. 11. Juli 2015

    […] meinen Vater, einen schlesischen Heimatvertriebenen, wurden dort ein paar Schlesische Gurkenhappen besorgt und ich bekam eine extra grosse Dillsalzgurke direkt aus dem Fassl, eingeschlagen in ein […]

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